DOKUMENTATION:
Der real existierende Kolonial- und Apartheid-Staat und seine Strategien.

Inhaltsüberblick:

Zitate: Irene Harand, Erich Fried

1. Israels „Sicherheits“-Argument zur Aufrechterhaltung der diskriminierenden Besatzung
    Exkurs (1): Zum Wasserkonflikt
    a) Fakten zum Apartheid-Begriff
    b) Diskriminierung und Rassismus innerhalb der israelischen Judenheit
    c) Zusammenfassung zum real existierenden zionistischen Kolonialstaat
    d) Aufruf von Amnesty International (AI)
    e) Plädoyer zur Abschaffung der israelischen Apartheid-Politik
2. Der „Anti-Antisemitismus“ und das „Holocaust-Gedenken“ auf Schritt und Tritt
    Exkurs (2): Zum Libanonkrieg 2006 und wie er gerechtfertigt wird
    Exkurs (3): Notizen zu Palmach und darüber, wie die israelische Administration mit ihrer Geschichte umgeht
    Anmerkung zum neuen Begriff eines „islambezogenen Antisemitismus“
3. Entdemokratisierung und Angriff auf die Pressefreiheit in Israel
4. Jimmy Carters Nahost-Friedensbemühungen
5. Zusammenfassung: Die dreifache Strategie des neozionistischen Lobbyismus
    Exkurs (4): Vom illiberalen Neozionismus zur Pluralität des Postzionismus – und wieder zurück . . .
ANHANG: „We stand with Israel“ („Wir stehen an der Seite Israels“) – Aber an welcher „Seite Israels“ stehen wir?
    Und an welcher „Seite Israels“ stehen unsere Politiker/innen?
    ECCP-Forderung an die EU: Die Gaza-Krise erfordert eine dringende Intervention der Europäischen Union

 

    DOKUMENTATION:
              Der real existierende Kolonial- und Apartheid-Staat und seine Strategien

    Jede Lüge muss mit der Wahrheit beantwortet werden.“
    Irene Harand (1900-1975), christliche Vorkämpferin
    gegen Nationalsozialismus und Antisemitismus

    Irene Harand

    Erich Fried: «Worauf es ankommt»
    »Es kommt nicht darauf an, was man ist
    – Moslem, Christ, Jude, Freigeist: Ein Mensch,
    der ein Mensch ist, kann nicht schweigen zu dem, was geschieht«

    Erich Fried (1921-1988):
    »Ein Jude an die zionistischen Kämpfer«
    »Wollt jetzt wirklich ihr die neue
    Gestapo sein, die neue Wehrmacht,
    die neue SA und SS, und aus den Palästinensern die neuen Juden machen?«

    1. Israels „Sicherheits-Argument zur Aufrechterhaltung der diskriminierenden Besatzung

    This is Apartheid.jpg

    Im Jänner 2021 hat B'Tselem erstmals sowohl Israel als auch die von ihm kontrollierten palästinensischen Gebiete als „ein einziges Apartheid-Regime“ bezeichnet, wie Ha'aretz berichtete.
    Israel dagegen lehnt den „Apartheid“-Begriff für seine Politik vehement ab und sagt, die Beschränkungen, die es im Gazastreifen und im Westjordanland verhängt, seien „vorübergehende Maßnahmen“, die „für die Sicherheit notwendig“ seien.
    Gegen dieses Argument spricht jedoch, dass sämtliche Maßnahmen der israelischen Politik unleugbar auf einen unumkehrbaren Endzustand der Besetzung zielen:
    (a) Die fortgesetzte Beschlagnahme palästinensischen Eigentums und Grundbesitzes zugunsten der Anlage immer neuer jüdischer Wohnviertel und Siedlungen,
    (b) der rasante Bau von Verbindungsstraßen, die nur von Fahrzeugen mit israelischen (nicht palästinensischen) Kennzeichen befahren werden dürfen („for Jews only“)
    (c) die grundsätzliche Verweigerung palästinensischer Baugenehmigungen im Jordantal bzw. in der Zone C (61 % der Gesamtfläche Palästinas!) bei gleichzeitig andauernder Zerstörung von Wohnobjekten durch die Machthaber („demolition order“), auch von Schulhäusern der Hirtengemeinschaften, die von der EU gesponsert worden sind, sowie von Stallungen, die dem Schutz ihres Kleinviehs vor der Witterung dienen. Der größte Teil des Jordantals im besetzten Westjordanland ist von der israelischen Armee zur „geschlossenen Militärzone“ erklärt worden oder wurde von jüdischen Siedlungen eingenommen (36 zum Stand 2010; AI-Bericht: „Israel intensiviert die Zerstörung von palästinensischen Häusern im Westjordanland“). Zudem legen die Siedler im fruchtbaren Jordantal unter Militärschutz riesige Monokulturen mit Kokospalmen für den Export an, die einen riesigen Bedarf an Wasser haben.
    Die Palästinenser haben Dattelpalmen in ihrer Enklave von Jericho (59 km²) gepflanzt und ernten und verkaufen sie auf faire Weise. (Eine verlässliche Bezugsquelle in Wien ist Pali-delights).

    EXKURS (1):

    Zum Wasserkonflikt

    Im ersten israelisch-arabischen Krieg hatte die israelische Armee (IDF) ihr Ziel, das gesamte Gebiet des historischen Palästinas zu erobern, nicht erreicht. Es kam Anfang 1949 zum Waffenstillstand und zur Vereinbarung einer Waffenstillstandslinie, die als „Green Line“ bekannt ist. Sie ist bis heute völkerrechtlich anerkannt und gilt als Grenze gegenüber dem restlichen Gebiet des Jordan-Westufers, dem sogenannten Westjordanland (West Bank), das mittlerweile als „Staat Palästinensa“ von einem Großteil der UNO-Mitgliedstaaten anerkannt ist (unter anderem von Schweden).

    Die IDF überrannten diese „Grüne Linie“ im Sechs-Tage-Krieg (Juni 1967), sicherten sich die militärische Kontrolle über das gesamte Gebiet bis zum Jordanfluss und errichteten darin eine Militärdiktatur. Offiziell wird sie aus der Sicht Israels als „temporäre Militärherrschaft“ ("temporary military rule") bezeichnet. Oberster Machthaber ist der israelische Militärkommandeur, unter ihm dient die israelische „Civil Administration“ als Verwaltungsorgan für „zivile Fragen“.

    Seither wird das okkupierte Territorium durch „Militär-Erlässe“ regiert (ME, Military Order). Bereits zwei Monate nach Ende der Eroberung, am 15.08.1967, erließ Israel den Militär-Erlass ME # 92, wodurch sämtliche Wasserbefugnisse und -oberhoheiten in die Hände des Militärkommandeurs gelegt wurden. Weitere drei Monate danach, am 19.11.1967, wurde ME # 158 erlassen, mit dem das berüchtigte „Permit System“ eingeführt wurde. Dies bedeutet, dass seitens der Palästinenser keine Arbeiten ohne „Erlaubnisschein“ durchgeführt werden dürfen. Für alles sind Bewilligungen seitens der Militärherrschaft bzw. der Zivilverwaltung erforderlich, und diese sind für die Einheimischen bürokratisch sehr aufwändig und werden im Allgemeinen auch nicht erteilt: keine neuen Brunnen oder Wasserzisternen, keine Wasserleitungen, nicht einmal Reparaturen an desolaten Anlagen dürfen ohne „Erlaubnis“ durchgeführt werden. Diese Bestimmung betrifft auch alte Anlagen, die vor 1967 existiert haben: Wenn für sie kein „Erlaubnisschein" ausgestellt ist, können sie von der israelischen Behörde zerstört und abgerissen werden (das gilt auch für Wasserversorgungsanlagen, die etwa von der Europäischen Union gesponsert worden sind), und sei es auch nur ein verlegter Wasserschlauch, um ein Hirtendorf im südlichen Hebroner Hügelland mit Trinkwasser zu versorgen, damit es nicht mehr vom Tanklastern mit Wasser beliefert werden müsste. Sobald die Behörde dies bemerkt, kommt ein Bulldozer, reißt den Schlauch aus dem Boden und zerstört Wassertanks. Es kommt sogar vor, dass Wasserzulieferungen mittels Tanklastern behindert werden. Zwischen 2012 und 2020 haben die israelischen Behörden nach Angaben von OCHA 506 palästinensische Wasser-, Sanitär- und Hygienestrukturen (WASH) im besetzten Westjordanland abgerissen.

    Laut der UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO) gilt allgemein ein Wasserbedarf von 100 Liter pro Person und Tag (l/p.d) als Minimum, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Wasserversorgungsplaner in Europa rechnen mit 130 l/p.d (ohne Betriebe). Israel reserviert 300 l/p.d für seine Bürger einschließlich der 700.000 ins völkerrechtswidrig besetzte Westjordanland eingewanderten und siedelnden jüdischen Menschen, gewährt aber den einheimischen Palästinsern nur 70 l/p.d, also um 30 weniger als die WHO-Mindestvorgabe im selben Gebiet. Dies ist in dem >>> Kurzvideo (1:22) anschaulich vor Augen geführt. (Anmerkung dazu: Dass Israel von dem Grundwasserstrom (Aquifer), der von der Nord-Süd-Bergkette jedes Jahr herabströmt, „über 80 %“ für sich entnimmt, ist eine euphemistische Untertreibung – diese Zahl würde zwar dem (ohnedies einseitigen) Oslo-Vertrag entsprechen, aber die Praxis ist noch viel schlimmer. Israel verletzt hier selbst „Oslo“.)

    Können sich Palästinenser an israelische Gerichte wenden? ME # 291 vom 19.12.1968 ermächtigt den Militärkommandeur, selbst israelische Gerichte zu überstimmen und alle bestehenden Regelungen zu annullieren. Dies gilt nicht nur im Bereich Wasser, sondern in allem gelten Militärrecht und Militärgerichte. (Klagen vor zivilen Gerichten in Israel können nur israelische Menschenrechtsorganisationen und Anwälte einreichen, im Namen der Palästinenser – falls sich diese die Anwaltskosten überhaupt leisten können.)

    Gibt es Wasserknappheit? Nicht für Israel. Der Staat hat mit seiner Okkupation alle Wasserressourcen zu 100 % an sich gerissen (s. o.: ME # 92). Palästina muss sein eigenes Wasser Kubikmeter für Kubikmeter von Israel um teures Geld abkaufen und wurde so zum Klienten der israelischen Besatzung, da sie keine Brunnen bohren dürfen. (Wasser aus alten, bestehenden palästinensischen Brunnen müssen sie natürlich nicht an Israel zahlen; deswegen ist es jedoch besonders fatal, wenn ihnen diese alten Anlagen von den Behörden oder von gewalttätigen Siedlern zerstört werden.)

    Zum Zeitpunkt der Oslo II-Verhandlungen in den 1990er Jahren hatte die bestehende Wassernutzung Palästinas „offiziell“ 118 Millionen Kubikmeter pro Jahr (mcm/a) betragen. Der Vertrag sah vor, den Palästinensern darüber hinaus sofort 25 mcm/a mehr zur Verfügung zu stellen sowie zuküftig weitere 75 mcm/a. Das hätte mit Enderfüllung des Vertrags per 1999 eine Verfügbarkeit von fast 220 mcm/a bedeutet. Wurde diese Zusage erfüllt? Nein, im Gegenteil: Die Zuteilung wurde immer weniger und liegt – nach dem Ende von Oslo II – bei weniger als 93 mcm/a (dem ungefähren Durchschnitt der letzten zwanzig Jahre).

    Ein Hauptansatz von Oslo II war die Bohrung neuer Tiefbrunnen. In kleinem Umfang war dies schon vor Oslo gestartet worden, begann aber in großem Maßstab nach Oslo seitens der Geberländer. Doch es traf auf israelischen Widerstand, steckte Ende der 1990er Jahre fest und wurde dann von den Gebern still fallengelassen.

    Gibt es eine echte, faire Lösung für diesen „Wasserkonflikt“? Israel stünde es jederzeit frei, den Palästinensern etwa Bohrgenehmigungen zu erteilen oder Military Orders außer Kraft zu setzen (die völkerrechtlich ohnedies illegal sind, s. u. den 92-seitigen HRW-Bericht dazu). Verfechter einer Beendigung der Okkupation und Befürworter der Entkolonisierung Palästinas meinen, dies könne nur durch Druck von außen geschehen – diplomatisch, öffentliche Meinung, politisch*...

    * Vgl. Gideon Levys Plädoyer zur Abschaffung der israelischen Apartheidpolitik (s. u.).

    Diese Ausführungen beruhen auf Informationen des Hydrogeologen und Palästinaexperten Dr. Clemens Messerschmid. Mehr darüber in seinem ausführlichen Videovortrag zur Wasserkrise in Palästina: „Bis zum letzten Tropfen“.

    [Ende Exkurs]

    Apartheid-Debatte

    Zwei neuere Entwicklungen haben B'Tselem 2021 dazu bewogen (siehe auch weiter unten), betreffend Apartheid-Debatte eine neue Position einzunehmen:
    (1) das umstrittene Basisgesetz von 2018, das Israel als „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ definiert, und
    (2) Israels Ankündigung im Jahr 2019, bis zu einem Drittel des besetzten Westjordanlandes zu annektieren, einschließlich aller jüdischen Siedlungen, in denen mittlerweile fast 500.000 Israelis leben. Diese Pläne wurden zwar auf Eis gelegt, aber Israel hat gesagt, die Pause sei nur vorübergehend.

    B'Tselem und andere Menschenrechts-Gruppen argumentieren, dass die Grenzen zwischen Israel und dem Westjordanland schon vor langer Zeit verschwunden sind – zumindest für israelische Siedler, die auf ihren „Apartheid“-Straßen (s. o.) frei hin- und herreisen können, während ihre palästinensischen Nachbarn eine Genehmigung benötigen, um Israels Staatsgebiet betreten zu dürfen.
    Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) kontrolliert weniger als 40 % der Gesamtfläche des Westjordanlandes, ist aber auch in diesen zerstückelten Teilgebieten immer noch Israel untergeordnet und kann ihre begrenzten Befugnisse nur mit Israels Zustimmung ausüben. Zudem droht stets die Gefahr brachialer Invasionen und überraschender nächtlicher Hauseinbrüche durch israelische „Sicherheitskräfte“.

    Palästinenser dürfen nicht demonstrieren, viele Vereinigungen wurden verboten und fast jede politische Äußerung wird als Aufwiegelung betrachtet. Diese Einschränkungen werden von den Militärgerichten eifrig durchgesetzt, die Hunderttausende von Palästinensern inhaftiert haben (auch Kinder und Jugendliche, viele ohne Gerichtsverfahren) und die einen Schlüsselmechanismus zur Aufrechterhaltung der Besatzung bilden.

    Die Menschenrechts-Organisation Human Rights Watch stellte dazu fest, dass Israel den Palästinensern im Westjordanland mindestens die gleichen Rechte gewähren sollte wie den israelischen Staatsbürgern, so Human Rights Watch in einem am 17. Dezember 2019 veröffentlichten Bericht und verwies auf die 52 Jahre andauernde israelische Besatzung, deren Ende nicht abzusehen ist. Das Besatzungsrecht erlaubt es den Besatzern, einige bürgerliche Rechte in den frühen Tagen einer Besatzung auf der Grundlage begrenzter Sicherheitsbegründungen einzuschränken, aber weitreichende Einschränkungen sind nach fünf Jahrzehnten ungerechtfertigt und ungesetzlich.

    Der 92-seitige Bericht, „Born Without Civil Rights: Israel's Use of Draconian Military Orders to Repress Palestinians in the West Bank“ (Ohne Bürgerrechte geboren: Israels Einsatz von drakonischen Militärbefehlen zur Unterdrückung von Palästinensern im Westjordanland) bewertet israelische Militärbefehle, die gewaltfreie politische Aktivitäten kriminalisieren, darunter Proteste, die Veröffentlichung von Material mit „politischer Bedeutung“ und der Beitritt zu „israelfeindlichen“ Gruppen. Human Rights Watch untersuchte mehrere Fallstudien, um zu zeigen, dass Israel sich ungerechtfertigterweise auf diese pauschalen Befehle stützt, um Palästinenser wegen besatzungsfeindlicher Äußerungen, Aktivismus oder politischer Zugehörigkeit zu inhaftieren, politische und andere Nichtregierungsorganisationen zu verbieten und Medien zu schließen.

    Video 3:37 Minuten:
    Video HRW

    a) Fakten zum Apartheid-Begriff

    • Ein Regime, das Gesetze, Praktiken und organisierte Gewalt einsetzt, um die Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere zu zementieren, ist ein Apartheid-Regime.
      Dagegen bezeichnen rechtsgerichtete politische Strömungen die israelische Menschenrechts- (MR-) Organisation B’Tselem als „Feinde Israels“.
      Warum die politische Rechte ihre eigenen Volkgenossen aus der Friedens- und MR-Bewegung als „Feinde“ betrachtet (und bekämpft), wird in den unten stehenden Ausführungen analysiert.
    • „Apartheid“ ist seit langem ein eigenständiger Begriff, der in internationalen Konventionen verankert ist und sich auf das Organisationsprinzip eines Regimes bezieht: die systematische Förderung der Dominanz einer Gruppe über eine andere und die Bemühungen, diese zu zementieren.
    • Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, engl.: International Criminal Court, ICC) definiert Apartheid als ein „institutionalisiertes Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung durch eine rassische Gruppe.“

    b) Diskriminierung und Rassismus innerhalb der Judenheit:
         „Als Palästinenser ist man der Schurke der Geschichte.
         Wenn man Mizrachi-Jude ist, ist man der primitive Verwandte.“

    • Was Apartheid definiert, sind nicht Aussagen, sondern die Praxis. Dabei kann es Unterschiede zwischen den Regimen geben: In Südafrika beruhte die Unterscheidung von „Rassenunterschieden“ aufgrund der Hautfarbe (hell versus dunkel), während sie in Israel – offiziell – auf Nationalität und Ethnizität beruht (jüdisch versus nichtjüdisch).
    • Inoffiziell allerdings spielen – innerethnisch – auch Hautfarben eine Rolle: Europäische Aschkenasim werden als „weiß“, orientalische Mizrachim als „nichtweiß“ wahrgenommen; diese werden realpolitisch seit langem auch diskriminiert. Weil seitens der aschkenasischen Elite die Aufrechterhaltung der „weißen“ Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Orientalen erwünscht war, wurde hundertausenden Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion die Einwanderung gestattet, obwohl sie keine Juden waren, oft als Ehepartnerinnen von Juden. Die Kehrseite illustriert der Fall ungandischer Juden:
    • Zweitausend dunkelhäutige Menschen in Uganda und Kenja, die – ohne jüdische Wurzeln zu haben – schon vor hundert Jahren das Judentum angenommen hatten und die jüdische Gemeinde Abayudaya bilden, werden von Israels Innenminister nicht als solche anerkannt (Stand 2021) und erhalten keinen Einwandererstatus nach dem Rückkehrgesetz, obwohl die Jewish Agency vor einigen Jahren „entschieden hat, dass sie Juden sind“. Die Sache wurde vor den Obersten Gerichtshof gebracht.
    • Vor drei Jahren wurde ein Mitglied der Abayudaya verhaftet, als er mit einem Flug aus Nairobi in Israel landete – obwohl er im Besitz eines gültigen Studentenvisums war, das ihn zum Studium an der Jeschiwa der (Nicht-Orthodoxen) Konservativen Richtung des Judentums in Jerusalem berechtigte. Nachdem er über Nacht am Ben-Gurion International Airport festgehalten wurde, wurde er zurück in sein schwarzafrikanisches Heimatland abgeschoben.
      Der Hintergrund ist, dass die in Religionsangelegenheiten maßgeblichen (Ultra-) Orthodoxen Oberrabbinate nur nach orthodoxem Ritus vollzogene Konversionen anerkennen und nicht solche durch Konservative oder Reformjüdische Rabbis. Der damals zuständige Innenminister mit marokkanischen Wurzeln war gleichzeitig Vorsitzender der ultraorthodoxen Shas-Partei.
    • Diese Partei versteht sich insbesondere auch als Wahrerin der sephardischen Glaubensausprägung. Neben den Aschkenasim stellen die Sepharden in Israel einen eigenen Oberrabbiner.
    • Ein christlich-palästinensischer Student aus Israel beschrieb bei einer ÖH-Veranstaltung an der Universität für Bodenkultur in Wien zum Thema Nahostkonflikt Ende der 1980er Jahre die sozialen Klüfte folgendermaßen : „Israel ist ein Fünf-Klassen-Staat – die angesehenste und wohlhabendste soziale Schicht sind die aus den USA eingewanderten Juden. Die zweite Klasse sind die Juden aus Europa, dann die aus der Sowjetunion. An der sozialen Basis der unterschiedlichen Judenheiten rangieren die orientalischen Juden. Aber wir palästinensischen Israelis sind die Allerletzten in Israel.

    Am 12. Jänner 2021 hat B'Tselem ein neues Positionspapier veröffentlicht und seine Einschätzung ausführlich begründet:
    A regime of Jewish supracy from the Jordan River to the Mediterranean Sea: This is apartheid“.
    (Nichtoffizielle Übersetzung:
    Ein Regime der jüdischen Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid“).

    Ist die Aufrechterhaltung der Besatzung für die Sicherheit Israels notwendig?
    Nein, argumentierte der jüdisch-israelische Politikwissenschaftler Prof. Ze'ev Sternhell (s. u.), denn seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 sei die Bedrohung für die Juden verschwunden; im Gegenteil sah er vielmehr die Siedlungen im Westjordanland als eine Gefahr für „Israels Fähigkeit, sich als freie und offene Gesellschaft zu entwickeln“, weil sie nationalistische Ziele über soziale und liberale Ziele stellten.

    c) Zusammenfassung zum real existierenden zionistischen Kolonialstaat

    Die „Zivilverwaltung“ (Civil Administration, hebr. ha-Minhal ha-ʿEzra i) ist das israelische Regierungsorgan, das in den 1967 von Israel eroberten Gebieten (occupied Palestinian territories, oPt) die praktischen bürokratischen Aufgaben wahrnimmt. Sie ist dem Inlandsgeheimdienst („Sicherheitsdienst“) Shin Bet wie auch dem israelischen Militär (IDF) untergeordnet und dient ihnen als deren Handlanger.
    Es gelten zwei verschiedene Rechtssysteme im kolonisierten Palästina (Westjordanland), wie es einem Apartheid-System entspricht: eines für das Herrenvolk (die unter Militärschutz eingewanderten jüdischen Siedler) und ein anderes für die Beherrschten, das palästinensische Volk, das den Herrschern und deren Willkür stets in allem praktisch ausgeliefert ist. Zudem leben sie unter verschiedenen Formen israelischer Kontrolle (1) im besetzten Westjordanland, (2) auf den annektierten Golan-Höhen, (3) im blockierten Gazastreifen, (4) im annektierten Ost-Jerusalem und (5) innerhalb des „jüdischen Staates“ selbst.
    Da die Kolonialherren – wie in der historischen Kolonialzeit – auch an ihre kulturelle Überlegenheit den „Arabern“ gegenüber und teils an die eigene rassische Höherwertigkeit glauben, erfüllen sie damit alle wesentlichen Kennzeichen des klassischen Kolonialismus.

    d) Aufruf von Amnesty International (AI):
         „Stoppen Sie die Unterstützung israelischer Siedlungen auf besetztem palästinensischen Land!“

    „In den letzten 50 Jahren hat Israel Tausende von Palästinensern von ihrem Land vertrieben, es besetzt und illegal genutzt, um Siedlungen zu errichten, die ausschließlich jüdische israelische Siedler beherbergen.
    Ganze palästinensische Gemeinden sind durch diese Siedlungen vertrieben worden. Ihre Häuser und Lebensgrundlagen wurden zerstört, ihre Bewegungsfreiheit und der Zugang zu ihrem eigenen Wasser, Land und anderen natürlichen Ressourcen wurden eingeschränkt. Die Gemeinden wurden auch gewaltsam vom israelischen Militär und den Siedlern angegriffen. Wir müssen jetzt handeln.
    Wir wollen, dass die Regierungen aufhören, die Wirtschaft zu unterstützen, die diese illegalen Siedlungen wachsen lässt und das Leiden der Palästinenser anheizt: und Sie können helfen.
    Es geht nicht nur darum, dass Israel sich illegal palästinensisches Land und Ressourcen nimmt. Regierungen auf der ganzen Welt lassen Waren, die in diesen Siedlungen produziert werden, auf ihren Märkten zu und erlauben Unternehmen in ihren Ländern, in Siedlungen zu arbeiten. All dies hilft den illegalen Siedlungen zu profitieren und zu gedeihen.
    Fordern Sie Ihre Regierung jetzt auf, israelische Siedlungsgüter nicht mehr auf Ihre Märkte zu lassen und Unternehmen mit Sitz in Ihrem Land daran zu hindern, in Siedlungen zu operieren oder mit deren Waren zu handeln – und helfen Sie, den Kreislauf der Verletzungen zu beenden, unter denen Palästinenser unter der israelischen Besatzung leiden.“

    Auch AI wurde und wird wegen seines Einsatzes für ungeteilte Menschenrechte auch für das palästinensische Volk mit dem stereotypischen „Antisemitismus“-Vorwurf bedacht, zuletzt wegen eines Solidaritätsaufrufes für eine bekannte jugendliche Aktivistin, die sich mit friedlichen Mitteln gegen die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel einsetzt und die wegen ihrer Berichte über Unterdrückung und Gewalt der israelischen Armee gegenüber der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland schikaniert wird und Todesdrohungen erhalten hat.

    e) Plädoyer zur Abschaffung der israelischen Apartheidpolitik
    Im Anschluss an die Entscheidung von B'Tselem, für die israelische Politik gegenüber dem palästinensischen Volk ab sofort den Apartheid-Begriff anzuwenden, plädierte der Ha'aretz-Kommentator Gideon Levy für eine Beendigung der Apartheid:

    „Das System, dem sie unterworfen sind, ist ohne Frage ein System der Diskriminierung, Unterdrückung, Enteignung und Trennung auf der Grundlage der Nationalität und ist daher ein Apartheidsystem. Demokratie nur für Juden ist natürlich eine Scherz-Demokratie. [...] Wenn Apartheid in einem Teil seines Territoriums für einige seiner Bewohner existiert – ist es ein Apartheid-Staat. Keine Demokratie kann regionale Tyrannei oder regionale Apartheid dulden.

    Darum richtet sich Levys Appell an die internationale Staatengemeinschaft:

    „Wenn dies ein Apartheidstaat ist, dann ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, ihn so zu behandeln, wie sie es mit seinem Vorgänger getan hat. Israel, das sich oft über seine diskriminierende Behandlung, über Doppelmoral und Heuchelei, ganz zu schweigen von Antisemitismus, beschwert, ist offenbar das verwöhnteste Land der Welt. Kein anderer Staat erhält seit Jahrzehnten so viele Ressourcen und so viel Unterstützung und genießt gleichzeitig eine unglaubliche Toleranz. Ein Apartheid-Staat als Liebling des Westens, sein verwöhntes Kind, das nie aufgefordert wird, echte Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen und für seine Verbrechen zu bezahlen.
    Seine neue Definierung als Apartheid-Staat könnte die Welt zwingen, ihre Haltung zu ändern. Sie muss aufhören, so nachsichtig zu sein und die Augen zu verschließen. Sie kann nicht weiter glauben, dass die Besatzung vorübergehend ist, dass es einen 'Friedensprozess' gibt, der in Erwartung palästinensischer 'Partner' im Moment nur "eingefroren" ist, und dass eine Lösung gleich um die Ecke wartet.

    Das werde niemals geschehen, meint Gideon Levy. Es sei seit 53 Jahren nicht passiert, und es gebe keinen Anlass, dass es jetzt plötzlich passieren wird. Darum sieht er nur noch eine einzige Möglichkeit, nämlich dass der Anstoß nur von der internationalen Gemeinschaft geliefert werden könne – wenn sie verlangt, dass Israel die Verantwortung übernimmt, und wenn sie Israel strafrechtlichen Maßnahmen unterwirft. Das sei sowohl das Recht als auch die Pflicht der internationalen Gemeinschaft. Levy weiter:

    „Diese Pflicht ist umso zwingender, wenn es sich nicht mehr um vorübergehende Verletzungen des Völkerrechts, flüchtige Kriegsverbrechen oder eine militärische Besatzung wie jede andere handelt. Wenn die Besatzung zur Apartheid wird und die Identität des Staates definiert, ist internationales Handeln erforderlich – ja, genau wie es mit Südafrika geschah. Was dort funktionierte, könnte auch hier funktionieren. Schauen wir, was passiert, wenn die Israelis anfangen, für die Sünden ihres Staates zu bezahlen. Ein wahrer Patriot sollte sich nach diesem Tag sehnen. Deshalb ist die Diskussion über Israel als Apartheid-Staat so wichtig.

    2. Der „Anti-Antisemitismus“ und das „Holocaust-Gedenken“ auf Schritt und Tritt

    Ebenso wenig, wie man seinerzeit schwarzafrikanischen Kritikern weißer Apartheid in Südafrika pauschal „rassistische, anti-weiße Motive“ unterstellen hätte können, könnte man heute nichtjüdischen Kritikern jüdischer Apartheid in Palästina pauschal „Antisemitismus“ unterstellen, insbesondere als ihre Kritik an Israels Unterdrückungssystem über die Maßen sachlich gerechtfertigt ist. Doch genau dies praktiziert die neozionistische Lobby, die sich mit ihrer ultranationalistischen und antiarabischen bzw. antipalästinensischen Definition von Zionismus durchgesetzt hat. Ihre reflexartige Abwehr jeglicher Kritik bei gleichzeitiger Kompromittierung sachlicher Argumente als – vorgeblich – „antisemitisch motiviert“ kippt spätestens dann ins Absurde, wenn es sich bei denen, die Kritik üben oder das Ende der Okkupation fordern, selbst um jüdische Personen oder Personengruppen innerhalb oder außerhalb Israels handelt, womöglich sogar um direkte Nachkommen von Holocaust-Opfern. Ihnen wird mitunter „jüdischer Selbsthass“ nachgesagt, wenn sie der Kolonialpolitik Israels ablehnend gegenüberstehen.
    Dieser Logik entspricht auch, dass sich jüdisch-israelische Menschenrechtsgruppen kompromittierenden Angriffen und Unterstellungen seitens jüdisch-nationalistischer und neozionistischer Kreise ausgesetzt sehen.

    Prototypisch für zahllose jüdische Prominente, die Israels Siedlungspolitik kritisieren und darum ins Kreuzfeuer der Neozionisten geraten sind, steht der israelische Politologe und Historiker Ze'ev Sternhell (1935-2020), Professor für Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem, Kommentator des israelisch-palästinensischen Konflikts und Schriftsteller. In seinen Arbeiten entwickelte er einen streng ideengeschichtlichen Faschismusbegriff und war damit einer der weltweit führenden Theoretiker des Faschismus-Phänomens. In einem Interview aus dem Jahr 2014 behauptete Sternhell, dass es in Israel Anzeichen von Faschismus gebe. Diese faschistische Erosion, so schrieb er, müsse gestoppt werden, da sie „droht, Israels Demokratie zu ertränken“.
    Dabei war Sternhell keineswegs ein Antizionist, ganz im Gegenteil. In einem Interview mit Ha'aretz 2008 sagte er:

    „Ich bin nicht nur ein Zionist, ich bin ein Super-Zionist. Für mich war und bleibt der Zionismus das Recht der Juden, ihr Schicksal und ihre Zukunft zu kontrollieren.“ Sternhell verstand sich als liberaler „National-Israeli“, unterschied aber zwischen einem universalistisch-säkularen und einem religiösen Nationalismus: „In meinen Augen ist ein Nationalismus, der nicht universalistisch ist, ein Nationalismus, der die nationalen Rechte der anderen nicht respektiert, ein gefährlicher Nationalismus.[...] Heute sind die religiösen Elemente diejenigen, die im Namen eines Nationalismus sprechen, den ich nicht akzeptiere, weil er den anderen – palästinensischen – Nationalismus nicht respektiert.

    1996 hatte er eine viel beachtete Untersuchung über die Entstehung Israels und den Zionismus vorgelegt. Er schrieb regelmäßig politische Kolumnen in Ha'aretz und wurde Mitglied von „Shalom Achshaw“ (Peace Now) und ein scharfer Kritiker der israelischen Siedlungspolitik – für ihn galten als Grenzen Israels diejenigen von 1949. Er war gegen die Besatzung, weil er wollte, dass die Palästinenser die gleichen Rechte hätten wie er.
    In dem Buch „The Founding Myths of Israel“ (Princeton University Press 1998) argumentierte er, dass die historische Arbeiterbewegung nicht wirklich sozialistisch war und dass ihr Hauptziel die Eroberung Palästinas war. Dennoch glaubte er nicht, dass der Zionismus ursprünglich eine koloniale Bewegung war: „Es ging nicht darum, die Kontrolle über eine lokale Bevölkerung oder über natürliche Ressourcen oder über die Route nach Indien zu erlangen. Um das Recht der Juden auf Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, brauchte er ein Stück Land, auf das er sein Haupt legen konnte.“ Darum sah er einen grundlegenden Unterschied zwischen 1948/49 und 1967: „Während die Eroberungen von 1949 eine wesentliche Voraussetzung für die Gründung Israels waren, hatte der Versuch, die Eroberungen von 1967 zu erhalten, einen starken Beigeschmack von imperialer Expansion" (p. 338) . Seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967, so argumentierte Sternhell, sei aber die Bedrohung für die Juden verschwunden. Vielmehr sah er die Siedlungen im Westjordanland als eine Gefahr für „Israels Fähigkeit, sich als freie und offene Gesellschaft zu entwickeln“, weil sie nationalistische Ziele über soziale und liberale Ziele stellten (p. 345).
    Mit dieser Einschätzung wurde er zu einer Zielscheibe des Hasses der extremen politischen Rechten in Israel. 2009 überlebte er einen Bombenanschlag vor seinem Jerusalemer Wohnhaus am Bein verletzt, der dem religiös-fundamentalischen, rechtsterroristischen Siedler US-amerikanischer Herkunft Jakob Teitel angelastet wurde. Die Jerusalemer Polizei fand am Tatort Flugblätter, auf denen jedem, der Mitglieder von „Peace Now“ tötet, mehr als eine Million Schekel angeboten wurden. Von seinem Krankenhausbett aus sagte Sternhell, dass „allein der Vorfall die Zerbrechlichkeit der israelischen Demokratie verdeutlicht und die dringende Notwendigkeit, sie mit Entschiedenheit und Entschlossenheit zu verteidigen.“ Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sagte er, er werde weiterhin seine Meinung äußern.
    Teitel hatte 2008 auch einen Angriff auf das Haus eines 15-jährigen messianisch-jüdischen Jungen unternommen; eine in einem Korb versteckte Bombe explodierte in dessen Händen. Das Opfer lebt in der benachbarten jüdischen Westbank-Siedlung „Ariel“ und hat bis heute mit den Folgen des Attentats zu kämpfen.
    In Verhören mit den Untersuchungsbeamten erklärte Teitel später: „Ich würde es wieder tun.“

    Der Hass der extremen Rechten auf die politischen Ansichten jüdischer Friedensaktivisten erweist sich anhand der Maßlosigkeit ihrer martialischen Sprache in ihren polemischen Attacken.

    • So schmähte z. B. 2011 der damalige israelische Außenminister Avigdor Lieberman die ausgewiesene Menschenrechtsorganisation B’Tselem als „terrorunterstützende Gruppierung“ und behauptete, dass sich diese wie andere NGOs „eindeutig nicht um die Menschenrechte kümmern. Sie verbreiten Lügen, sie verleumden und hetzen gegen den Staat Israel und gegen israelische Soldaten.“ Es sei klar, „dass diese Organisationen dem Terrorismus Vorschub leisten, und ihr einziges Ziel ist es, Israel zu untergraben“, urteilte Lieberman in einer Rede vor Mitgliedern seiner rechtsgerichteten Partei „Yisrael Beiteinu“.
      Rechtsgerichtete politische Strömungen bezeichnen die israelische MR-Organisation B’Tselem als „Feinde Israels“.

    Aber auch linke israelische Politiker kritisieren B'Tselem, insbesondere Itzik Shmuli von der „Zionistischen Union“:

    • Dieser sagte, dass B'Tselem „bei der Dämonisierung Israels hilft“. Die Vorgeschichte war, dass der Exekutivdirektor von B'Tselem, Hagai El-Ad, die UNO aufgefordert hatte, Maßnahmen gegen die Siedlungen des jüdischen Staates in den besetzten Gebieten zu ergreifen, indem er in einer Sondersitzung des Sicherheitsrates am 14. Oktober 2016 sagte, Israel schaffe Fakten vor Ort, bevor ein Friedensabkommen mit den Palästinensern zustande komme. El-Ad hatte von „unsichtbarer, bürokratischer täglicher Gewalt“ gesprochen, die das Leben der Palästinenser „von der Wiege bis zur Bahre“ beherrsche, einschließlich der israelischen Kontrolle über die Ein- und Ausreise aus den Gebieten und sogar über die landwirtschaftlichen Rechte. „Mit jedem Atemzug, den sie nehmen, atmen die Palästinenser die Besatzung ein“. Das Land [Israel] könne nicht 50 Jahre lang ein Volk besetzen und sich eine Demokratie nennen, sagte El-Ad und fügte hinzu, dass die Rechte der Palästinenser verwirklicht werden müssten und die Besatzung beendet werden müsse. „Der UN-Sicherheitsrat muss handeln, und die Zeit ist jetzt“, schloss er.
      Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Danny Danon, kritisierte B'Tselem für deren Teilnahme an der Sitzung unter dem Titel „Illegale israelische Siedlungen: Hindernisse für den Frieden und die Zwei-Staaten-Lösung“. Israelische Organisationen hätten sich – Danon zufolge – dazu entschlossen, „Israels guten Namen bei einer von der palästinensischen Delegation (Danon: „antiisraelische Kräfte“) organisierten Veranstaltung zu verleumden und zu besudeln“, sagte Danon in einer Erklärung. „Es ist bedauerlich, dass israelische Organisationen sich den palästinensischen Versuchen angeschlossen haben, diplomatischen Terror gegen Israel bei der UNO zu betreiben.“

    Die Stereotypie und Undifferenziertheit, in der militante Israel-Lobbyisten – ohne dafür getadelt zu werden – auch und besonders nichtjüdische Gegner der israelischen Einverleibung des Westjordanlandes allein deshalb als antisemitisch titulieren oder gar als (Quasi-) Neonazis diffamieren, ist allgegenwärtig.

    • Einer der offiziellen Festredner der Israel-Lobby bei der 70-Jahr-Feier im Wiener Rathaus am 13. Mai 2018 verstieg sich – vor 500 versammelten Festgästen – ohne Skrupel zu der Behauptung, dass die gewaltfrei agierende internationale BDS-Boykottkampagne zur Beendigung der Okkupation „die Nachfolgeorganisation der NSDAP“ sei.
      Angesichts einer solchen „Tatsachen-Information“ (nicht bloß als Vergleich formuliert) stellt sich die Frage, ob diese krasse Entgleisung als Verharmlosung der NSDAP zu werten ist oder als versuchte Kriminalisierung einer unorganisierten Bewegung (Kampagne) der Zivilgesellschaft, die auch von vielen prominenten jüdischen Menschen unterstützt wird, die sich menschenrechtlich und demokratiepolitisch engagieren. Derselbe Redner behauptete auch, dass es nicht statthaft sei, von außerhalb Israels zu urteilen bzw. Kritik zu üben, sondern nur innerhalb des Landes. Zudem äußerte er sich im Nachgespräch auch noch extrem abfällig über die „Frauen in Schwarz“.
    • Auch Edward Said (s. o.) war – vorhersehbar – in Konflikt mit der US-amerikanischen Pro-Israel-Lobby geraten, und ein rechtsextremes jüdisches Magazin bezeichnete ihn als „Professor des Terrors“ – grotesk: gerade ihn, der Terror und Gewalt strikt abgelehnt hatte.
    • Die Politikprofessoren John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt – der eine Professor an der renommierten Harvard-Universität, der andere an der kaum weniger angesehenen University of Chicago – wurden aus derselben Richtung als „Feinde Israels“ bezeichnet, nachdem sie in einer über 500 Seiten umfangreichen wissenschaftlichen Studie (Titel: „Die Israel-Lobby: Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflusst wird“, 2007) belegt hatten, wie mächtig gewordene Pro-Israel-Gruppierungen in den USA deren Politik gegen die Interessen Amerikas beeinflussen und die US-Außenpolitik in Geiselhaft nehmen, insbesondere seit George W. Bushs Präsidentschaftsantritts.
      „Doch mit dem Argument, die Autoren seien von Judenfeindschaft motiviert, lässt sich die Sache nicht mehr unter den Teppich kehren“, kommentierte das Magazin „profil“ (in: „Weltpolitik: Warum ist Israel so mächtig? Neue Bücher zum Streit um den Judenstaat“ 08.09.2007) die Versuche eben dieser „Israel-Lobby“, diese Dokumentation zu relativieren, und attestiert ihnen vielmehr:
      „Sie breiten eine Fülle von Material aus, um zu beweisen, was ohnehin kaum jemand bestreiten kann: dass es eine Vielzahl proisraelischer US-Organisationen gibt, angeführt vom American Israel Public Action Committee (AIPAC), der Anti Defamation League (ADL) und anderen Gruppen, die ziemlich effektiv sind. 'Es gibt gar keinen Zweifel, dass unsere Bewegung ein Erfolg ist', räumt auch ADL-Direktor Foxman ein. Zu oft haben jüdische Organisationen den Antisemitismus-Vorwurf in den vergangenen Jahren gegen Kritiker der israelischen Politik vorgetragen. Sogar der Ex-US-Präsident und Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter musste sich des Antisemitismus zeihen lassen, weil er in seinem Buch 'Palastine. Peace Not Apartheid' ('Palästina. Friede statt Apartheid') die Zustände in den von Israel besetzten Gebieten mit denen in den einstigen südafrikanischen Bantustans verglichen hat. Jüdische Kritiker der israelischen Politik wie der renommierte New Yorker Geschichtsprofessor Tony Judt wurden als 'notorische Israel-Hasser' und 'objektive Antisemiten' verunglimpft. Die einflussreiche Tageszeitung „Washington Post“ titelte gar: „Yes, it’s antisemitic“ („Ja, es ist antisemitisch“).
      Problematisch sei, so Mearsheimer und Walt, dass die „Israel-Lobby“ besonders mächtig sei und außerdem danach strebt, ihre Gegner mundtot zu machen. Die Lobby versuche zu verhindern, dass israelkritische Positionen „in der Öffentlichkeit Gehör finden“. Das Ergebnis sei, dass die US-Politik – Präsidenten, Senatoren, Kongressabgeordnete – einseitig Israel im Nahostkonflikt unterstützt. Damit gelinge es aber einer „ethnischen Lobby“, die Politik von „dem abzubringen, was eigentlich im amerikanischen Nationalinteresse läge“. „Eine Meinung“, so heißt es in dem „profil-Artikel“, „die übrigens auch viele völlig unverdächtige Zeitgenossen teilen. Schließlich sind sogar 47 Prozent der Israelis der Ansicht, dass die US-Politik die israelische Seite zu sehr bevorzuge.“ Auch den Irak-Krieg hätte es ohne die „Lobby“, so die Autoren, „sehr wahrscheinlich“ nicht gegeben. Auch wenn Mearsheimer und Walt „die Dinge manchmal ein bisschen simpel“ sehen , urteilte Tony Judt (New York University) in einem Interview: „Sie liegen jedoch in keinem einzigen Fall falsch.“ Im Jahr davor hatte Judt die beiden Autoren als einer der wenigen verteidigt, nachdem sie schon im Vorfeld ihrer Studie ihre Thesen in einem Working-Paper im „London Review of Books“ veröffentlicht hatten. Dieses habe zumindest bewirkt, so Judt, „dass sich jetzt immer mehr Leute fragen, ob es nicht doch stimmt, dass in Amerikas Nahostpolitik der Schwanz mit dem Hund wedelt. Es ist dieser 'Israel-Lobby' gelungen, die US-Öffentlichkeit zu überzeugen, dass Antizionismus gleich Antisemitismus ist, und über die Beschäftigung mit dem Holocaust das Bündnis der USA mit Israel einzuzementieren. Aber das ändert sich langsam, auch weil die junge Generation sich nicht mehr so stark für den Holocaust interessiert. Der Staat Israel hat nur noch wenige Jahre, in denen er für jede Dummheit, die er begeht, auf die bedingungslose Unterstützung der USA zählen kann.“  (DER STANDARD, 30. Juni 2006)

    So sehen also gängige Anschuldigungen und Unterstellungen aus, wie sie gegen Personen – jüdische wie nichtjüdische – vorgebracht werden, die sich für ein Ende der Okkupation und für die Gleichberechtigung für alle einsetzen und an der ungeschminkten historischen Aufarbeitung arbeiten. Hinter dieser rufmörderischen Kriegsrhetorik steht meist (aber nicht immer) die neozionistische Ideologie, die „Israel“ als jüdisch dominierten, möglichst araberfreien großisraelischen und antisäkularen, Halacha-konformen  Staat  plant (gleichsam als Gegenstück zum islamischen Scharia-Staat) und dessen Verwirklichung seit Jitzchak Rabins Ermordung machtbewusst vorantreibt. Nach außen sind ihre Propagandisten damit beschäftigt, der Welt „Israel zu erklären“ (hebr. hasbarā), indem sie der Staatengemeinschaft glaubhaft machen, ein aufgeklärter pluralistisch-demokratischer und vor allem friedenswilliger Staat zu sein.
    Es entspricht daher, wie erwähnt, der Logik der neozionistischen Lobby, stets reflexaertig zu bekämpfen, zu diffamieren und nicht selten mit Nazi-Vergleichen zu versehen, was immer ihnen einerseits bei der Durchsetzung ihrer politischen Ideologie als hinderlich und andererseits ihrem Image als weltoffene, liberale Demokratie als abträglich erscheint: kritische Stimmen jedweder Art, gleichgültig aus welchem Lager. Zwecks „Beobachtung“ („Watch“) der Medienlandschaft dienen zahllose, als „unabhängig“ bemäntelte Internetseiten der Lobbies, die im Fall von israelkritischen Beiträgen sofort mit Dementis, gefakten Gegendarstellungen (Beispiel „audiatur-online“: „Es gab nie ein Massaker in Deir Yassin“) und Druck auf Redaktionen, Politik und Vermieter von Räumlichkeiten reagieren oft unter alarmistischem Verweis auf „antisemitistische Steretypen“.

    Rolf Verleger

    Ein weiterer Fall ist die Art und Weise, wie ein angesehener jüdischer Wissenschaftler und Buchautor, der in der Friedensbewegung engagiert ist, von jüdischen Funktionären und Publizisten angegriffen und geschmäht wird:

    Der österreichische Journalist Karl Pfeifer (geb. 1928), eine Zeitlang Redakteur des offiziellen Organs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, griff Prof. Dr. Rolf Verleger (1951-2021), den Autor des Buches „Israels Irrweg. Eine Jüdische Sicht“ anlässlich dessen erweiterte Neuauflage 2009 , in dem größten jüdischen Internet-Portal an und beschuldigte ihn, „Israel zu dämonisieren“, und unterstellte ihm pauschal „antiisraelische Ressentiments“; das reiche bis zur „Geschichtsfälschung“ und der „Legitimierung antisemitischer Politiker wie dem Londoner Ex-Bürgermeister Ken Livingstone“. Zudem sagte er ihm „geistiges Armutszeugnis“ nach, weil er Theodor Herzl und David Ben-Gurion nicht aus dessen Original-Schriften zitiert hatte.

    Wer ist Rolf Verleger und was hatte er getan, um auf diese Weise kompromittiert zu werden? 1928 als Kind deutscher Shoah-Überlebender geboren, war er 1995 aktiv an der Gründung der Jüdischen Gemeinde in Lübeck beteiligt und Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland. Als promovierter Sozialwissenschaftler und seit 2017 emeritierter Hochschullehrer hält er das Gebot der Nächstenliebe* für das zentrale Prinzip des Judentums.
    (Mit diesem Verständnis des Judentums geht unter anderem auch der israelische Autor und Filmemacher Marat Parkhomovosky konform, der die Ansicht geäußert hat, dass das, was 1948 geschah, dem Judentum widerspricht. „Und das ist von meinem Platz als Jude, nicht als Israeli“, meinte er als Autor des Theaterstücks „1948“ zur Staatsgründung, das 2015 in Israel beim Publikum viele Diskussionen ausgelöst hat.)

    * Anmerkung FW: Er hat recht aus der Sicht des liberalen Reformjudentums. Er hat nicht recht aus einer ganzheitlichen Sicht der Torah. Diesbezüglich hat Rabbi Jeschūa (Jesus von Nazareth) das zentrale Gebot der hebräischen Bibel, als er von einem Schriftgelehrten gefragt wurde, mit dem daraus extrahierten Doppelgebot der Liebe erklärt: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“ (Markus 12,29 ff)

    Unter dem Eindruck des (Zweiten) Libanonkriegs 2006 hatte sich Rolf Verleger mit einem Brief vom 23. Juli 2006 zunächst intern an den Zentralrat der Juden in Deutschland gewendet und dann öffentlich als Vertreter des Zentralrats kritisch zu den „militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung gegen den Libanon“ und zu der Israel unterstützenden Haltung des Zentralrats hierzu geäußert, indem er Israels Einmarsch in den Libanon als „Gewaltpolitik“ verurteilte: Der jüdische Staat bestrafe Menschen in Kollektivverantwortung, praktiziere Tötungen ohne Gerichtsverfahren und lasse ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legen. Dies brachte ihm von Seiten der Zentralrats-Vorsitzenden Charlotte Knobloch und anderer Repräsentanten jüdischer Organisationen harsche Kritik ein. Zentralrats-Generalsekretär Stephan Kramer nannte die Position Verlegers „abstrus“ und eine „absolute Einzelmeinung“. Verleger bediene sich „antiisraelischer Klischees, die durch keine sachlichen Argumente belegt sind“. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte Verleger, dass es ihm auch um das Wohl Israels gehe. Das Vorgehen der Regierung Ehud Olmert gegen Libanon sehe er aber als schädlich für Israel. Der Zentralrat dagegen hatte nach Beginn der Militäroperation mehrfach seine Solidarität mit Israels Politik bekundet und „einseitige Kritik“ daran scharf zurückgewiesen. In einem Aufruf vom 21. Juli hieß es, „die Verantwortung für die aktuelle Situation trägt jedoch nicht Israel, sondern die libanesische Regierung“.

    In seinem Buch sparte Rolf Verleger nicht mit Kritik an der israelischen Staatsgründung und der aktuellen Politik, an den überwiegend pro-israelisch eingestellten jüdischen Gemeinden in Deutschland und an der Abkehr von „Humanismus und Nächstenliebe, die er für die wahren Werte des Judentums hält“; so wird er im Deutschlandfunk vom 30. Oktober 2017 zitiert (Einhundert Jahre Balfour-Deklaration“. Das Buch endet mit der These, dass gegenwärtig zwei Pole im Judentum noch ideologische Strahlkraft hätten, nämlich die nationalreligiöse „Erlösung des Landes“ in Israel und die universalistische Menschenrechtsidee im US-Judentum. Die Südeutsche Zeitung kommentierte, dass sich durch das Buch wie ein roter Faden Verlegers jüdisches Selbstverständnis ziehe. Verleger liefere Denkanstöße und seine Sicht mache die jüdische Vielfältigkeit deutlich. „Sein Ansatz schlägt Brücken zum palästinensischen Volk“.

    EXKURS (2):

    Zum Libanonkrieg 2006 und wie er „gerechtfertigt“ wird

    Der von Israel unter PM Ehud Olmert am 12. Juli 2006 vom Zaun gebrochene Militäreinsatz gegen den Libanon (der Zweite Libanonkrieg) war mit Wissen und inoffiziellem Einverständnis der US-Regierung, der G. W. Bush-Administration, schon Monate zuvor ausgearbeitet worden. Mit der Operation „Just Reward“ („Gerechter Lohn“) begann Israel eine großangelegte Offensive mit Luftangriffen auf Ziele im gesamten Libanon und setzte im späteren Verlauf zudem seine Landstreitkräfte im Südlibanon ein. Die israelische Luftwaffe bombardierte Straßen und Brücken, den Beiruter Flughafen und das Hauptwohngebiet der christlichen Maroniten, die als überwiegend antisyrisch und prowestlich eingestuft werden, sowie Hafenanlagen in der dicht mit Hochhäusern bebauten und nahezu ausschließlich von Christen bewohnten Bucht von Jounieh. Das Bombardement des südlich von Beirut gelegenen Ölkraftwerks Dschije zwischen 13. und 15. Juli verursachte eine verheerende Ölpest – die bis dahin drittgrößte Umweltkatastrophe im Mittelmeer mit darauffolgenden jahrelangen wirtschaftlichen Schäden für den Tourismus und die Fischereiwirtschaft.

    Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) wirft Israel vor, Streumunition gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt zu haben (BBC: Israel urged to shun cluster bomb, 25. Juli 2006). In einem Bericht der Zeitung Ha'aretz vom 13. September 2006 gab ein kriegsbeteiligter israelischer Artillerieoffizier und Kommandant eines israelischen Multiple Launch Rocket Systems (MLRS) die Zahl der eingesetzten Streubomben mit 1800 und der darin enthaltenen Bomblets mit mindestens 1,2 Millionen an. Nach Angaben der libanesischen Regierung sind 70 Prozent der vom Krieg betroffenen Gebiete mit Streubomben kontaminiert, wobei mehreren übereinstimmenden Berichten zufolge offenbar 90 % der Streumunition in den letzten 72 Stunden vor dem aufgrund der UN-Resolution 1701 absehbaren Ende des Libanonkrieges 2006 abgeworfen wurden.

    Maßgebliche evangelikale Zionisten* in den USA unterstützten die Position Israels. Für die „Christian Right“ ist die Unterstützung von Israel wichtig als Teil der „letzten Schlacht“. Newt Gingrich, ein Vertreter der Neokonservativen – neben den Evangelikalen die Hauptbasis der republikanischen US-Regierung unter George W. Bush –, sah im Israel-Hisbollah-Konflikt den Ausbruch des Dritten Weltkriegs (CBS News: Gingrich Can’t Wait For World War III, 21. Juli 2006); man sollte nun schnell darauf hinarbeiten und dürfe jetzt keine Appeasement-Politik betreiben. [Exkurs Ende]

    *Nota bene: Kann der „Zionismus“ „christlich“ sein? Von der Begrifflichkeit her und aus der Sicht des historischen Christentums, dessen Basis das Neue Testament ist, wohl nicht.
    Dessen Schriften entsprechend ist „christlich“ auf Jesus von Nazareth bezogen, dem von den hebräischen Propheten geweissagten „Christus“ (hebr. Messias, deutsch Gesalbter), dem Sohn Davids, der – vom Geist Gottes „gesalbt“ (d. h. bevollmächtigt) – nach „vollbrachter“ Erlösung (Joh 19,30) das „Neue Jerusalem“ begründet hat. Dass dieses ausschließlich „himmlisch“ zu verstehen ist und sein Reich (basilea: Königtum) „nicht von [der Art] dieser Welt“ ist (Joh 18,36), wird durch das gesamte Neue Testament hindurch gelehrt, und so wird auch das Alte Testament interpretiert. Das alttestamentliche „Zion“ (d. i. im engeren Sinn der ehemalige Jerusalemer Tempel-Opferdienst – ohne diesen gibt es aber auch kein „Zion“ im Sinne der Bibel mehr) erfüllt sich im davidisch-messianischen („christlichen“) Zeitalter „himmlisch“ (Heb 12,22; vgl. Kol 1,13). Wer immer ihm [Jesus, dem Christus] in diesem Sinn nachfolgt, kann daher eine religiöse Orientierung auf ein irdisches „Zion“ nur als götzenhaften Anachronismus betrachten.
    Darum ist der Ausdruck „christlicher Zionismus“ ein Widerspruch in sich selbst, um nicht zu sagen ein Oxymoron. „Christliche Zionisten“ folgen daher mit ihrer futuristisch-eschatologischen Häresie wie verzaubert der mystischen Erwartung des nationalreligiösen, suprematistischen Neozionismus. [Mehr darüber...]
    Ergänzend ist allerdings festzuhalten, dass es sich bei diesen Verfechtern nur um eine Teilgruppierung der evangelikalen Christenheit handelt, siehe dazu: „Die Spaltung der evangelikalen Christenheit durch den Einbruch der neozionistischen Ideologie“.

    Karl Pfeifer kämpfte ab 1946 in der paramilitärischen „Elitetruppe“ Palmach, die von der jüdischen Untergrundorganisation Hagana gegründet worden war, und nach der Staatsgründung Israels bis 1949 in der israelischen Armee. 1951 kehrte er nach Österreich zurück.
    De facto war der Palmach eine Terrortruppe, die 1942 in den Untergrund gegangen war, nachdem die Briten ihre Auflösung angeordnet hatten. Eine Haupttätigkeit der Truppe waren Sabotage, Bombenanschläge, Brückensprengungen, und Vergeltungsanschläge gegen Zivilisten (vor allem nach Ablehnung des UN-Teilungsplans 1947).
    In all seinen Palmach-Erinnerungen und Büchern, speziell zu 1948, schweigt Karl Pfeifer zu alldem. Ihm wurde 2003 die „Joseph-Samuel-Bloch-Medaille der Aktion gegen den Antisemitismus in Österreich“ verliehen und 2018: „Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“.

    .

    EXKURS (3):

    Notizen zu Palmach und darüber, wie die israelische Administration mit ihrer Geschichte umgeht

    • Mit David Ben-Gurions Entscheidung vom 1. Oktober 1945, einen bewaffneten Kampf gegen die Briten zu beginnen, ging der Palmach eine Allianz mit den dissidenten Terrorgruppen Irgun und Stern-Bande (Lechi) ein.
      Nach der Aktivierung von Plan D (Dalet) und seinen Unteroperationen in der ersten Aprilhälfte 1948 wurden Palmach-Einheiten eingesetzt, um Dörfer zu zerstören, mit dem Ziel zu verhindern, dass sie nach Abzug der Briten von palästinensischen Freischärlern oder der Armee der Arabischen Liga als Stützpunkte genutzt werden könnten.
      Nach dem Versuch, die Straße nach Jerusalem zu räumen, haben Palmach-Einheiten mehr oder weniger systematisch die Dörfer al-Qastal, Qalinya, Khuda eingeebnet und Beit Surik, Biddu, Shu'fat, Beit Iksa, Beit Mahsir und Sheikh Jarrah (Jerusalem) weitgehend oder teilweise zerstört.
      Am 9. April nahm eine Palmach-Einheit mit Mörsern an dem Irgun-Angriff auf das friedliche Dorf Deir Yassin teil, bevor deren Bewohner massakriert wurden.
      Zwischen dem 8. und 14. April gerieten zehn arabische Dörfer unter die Kontrolle der Palmach. Innerhalb von zwei Wochen wurden sie eingeebnet (Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem(1987), pp. 158, 159. "systematically destroyed").
      Am 2. Mai griff das 3. Palmach-Bataillon unter dem Kommando von Moshe Kelman das Dorf 'Ayn al-Zaytun mit einer Davidka, zwei 3-Zoll-Mörsern und acht 2-Zoll-Mörsern an.
      In den folgenden zwei Tagen sprengten und verbrannten Palmach-Sappeure alle Häuser. Nach der Einnahme dieses Dorfes befahl Bataillonskommandeur Kelman die Hinrichtung von siebzig Gefangenen.
    • [Anm.: Die Regierung Netanjahu hat sich größte Mühe gegeben, um weitere Veröffentlichungen aus militärischen Archiven zu verhindern. Im Jahr 2010 verlängerte Netanjahu die Vertraulichkeitsfrist für Sicherheitsarchive von 50 Jahren auf 70 Jahre. So wurde ein spezielles Komitee unter der Leitung des Justizministers geschaffen, das nach Ablauf der Fristen, je nach Klassifizierungsgrad (25/50/70 Jahre), Materialien nicht einfach freigegeben werden können. Zuerst muss der jeweilige Chefarchivar die Materialien prüfen, und danach hat das Komitee das Recht, den Zugang zusätzlich einzuschränken.
      Tatsächlich nutzte das Komitee seine Macht aus, um den Zugang etwa zum sogenannten Riftin-Bericht über außergerichtliche Hinrichtungen durch die Haganah-Untergrundarmee vor der Unabhängigkeit zu verbieten. Im Jahr 1998, ein halbes Jahrhundert, nachdem der Bericht geschrieben wurde, war die Vertraulichkeitsfrist abgelaufen, nach der er hätte entsiegelt werden müssen. In den 20 Jahren, die bis 2018 vergangen sind, haben zwei Staatsarchivare beim Ministerialkomitee eine Verlängerung der Geheimhaltungsfrist beantragt und erhalten. Forscher des Akevot-Instituts fanden und digitalisierten eine andere Kopie des Riftin-Berichts im Yad-Tabenkin-Archiv. Am 5. November 2017 reichte Akevot den Riftin-Bericht bei der israelischen Militärzensur zur Überprüfung vor der geplanten Veröffentlichung auf der Akevot-Website ein. Das Ministerkomitee für die Deklassifizierung von Archivmaterial beschloss, die Kopie des Riftin-Berichts für weitere fünf Jahre unter Verschluss zu halten. Das Akevot-Institut kommentierte dies folgendermaßen: „Das Ergebnis ist die Verzerrung der Geschichte und die Verweigerung sowohl einer Aufzeichnung unserer nahen Vergangenheit als auch der Fähigkeit, eine faktenbasierte Diskussion über Kriegsverbrechen zu führen, die von IDF-Soldaten und Mitgliedern der Sicherheitskräfte im Laufe der Jahre begangen wurden."]

    Betreffend die Instrumentalisierung des Holocausts ließ der prominente jüdisch-amerikanische Kolumnist, Journalist und politische Kommentator Peter Beinart 2020 in einem Essay mit dem Argument zugunsten einer Ein-Staat-Lösung aufhorchen, dass ein Großteil der jüdischen Gemeinschaft die Welt durch eine veraltete „Holocaust-Linse“ sieht, in der ein souveräner jüdischer Staat erforderlich sei, um einen zweiten Holocaust zu verhindern, während dies sowohl Israelis als auch Palästinenser leiden lässt.
    Bis dato erleben wir in Europa, dass ständig neue Initiativen des Holocaust-Gedenkens entwickelt und möglichst das ganze Jahr über immer wieder medial vermittelt werden. Es scheint, als sollte die Welt auf Schritt und Tritt an das Mega-Verbrechen der millionenhaften Juden-Vernichtung in Europa erinnert und dabei von den Verbrechen der eigenen Politik abgelenkt und die Erinnerung daran (Libanon-Kriege...) zugedeckt werden. Dabei werden „Holocaust“ und „Auschwitz“ stets als jüdischer Holocaust vermittelt,* als seien Juden die einzigen Opfer des Nazi-Rassenwahns gewesen. Faktisch werden die Anti-Antisemiten dadurch selber zu „Holocaust“-Verleugnern, nämlich des Roma-Holocausts.

    * Eine ausführliche Analyse dazu siehe:
            „'Holocaust-Theologie' und die Frage nach der 'Singularität der Shoah'“ (2021) .

    Anmerkung zum neuen Begriff eines „islambezogenen Antisemitismus“
    Angesichts des gewaltfreien Widerstands der palästinensischen Zivilgesellschaft im Westjordanland wie in Gaza gegen die Okkupation haben die Israel-Lobbyisten vor einigen Jahren die Theorie des „islambezogenen Antisemitismus“ entwickelt, als ob Muslime nicht auch allein aus Solidarität zur Bevölkerung Palästinas antiisraelisch sein könnten und als ob alle arabisch sprechenden Menschen Muslime und nicht auch Christen wären; bereits gegen Ende der osmanischen Herrschaft und unter der britischen Mandatsverwaltung waren nominell christlich-arabische Palästinenser in den Unabhängigkeitsbestrebungen Palästinas mit dem Ziel eines unabhängigen, säkularen und demokratischen Staates für alle weitaus überdurchschnittlich vertreten.

    3. Jimmy Carters Nahost-Friedensbemühungen

    Im Anschluss an die israelischen Redner bei der oben zitierten Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates am 14. Oktober 2016 sprachen die Vertreter der Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats. Der US-Gesandte David Pressman sagte, Washington sei „zutiefst besorgt über die anhaltende Siedlungsaktivität", die er als „zersetzend für die Sache des Friedens"  bezeichnete.
    Zu dieser Einschätzung passt die Darstellung der Position zum Nahost-Konflikt von Jimmy Carter, dem 39. US-Präsidenten von 1977-1981. Da es sich um den wohl prominentesten Zeitzeugen zu diesem Thema handelt, sollte der nachfolgende, ausführlichere Beitrag bestmöglichen Aufschluss geben.

    Jimmy Carter hat sich sein ganzes Leben lang mit dem Studium des „Heiligen Landes“ befasst. Während seiner Präsidentschaft unternahm er mehrere Reisen in den Nahen Osten, um Friedensverhandlungen zu vermitteln. Dahinter stand sein Anliegen, auch in der Außenpolitik auf Menschenrechte zu achten. Noch Anfang der 1960er Jahre hatte im Süden der USA immer noch Rassentrennung geherrscht. Schwarze durften in Restaurants nicht neben Weißen sitzen, waren von Wahlen ausgeschlossen und im Alltag diskriminiert – ein rassistisches System. Dann wurde durch die Bürgerrechtsbewegung mit Dr. Martin Luther King an der Spitze und unter der Führung von Präsident Lyndon B. Johnson die Aufhebung der Rassentrennung für die gesamte Nation durchgesetzt. In Jimmy Carters Buch „Unsere gefährdeten Werte. Amerikas moralische Krise“ (deutsch 2006), das er 2005 – gegen Ende der ersten Präsidentschaft von George W. Bush – unter dem Eindruck der „Deformierung der amerikanischen Außenpolitik“ (so der Titel eines der Kapitel) verfasst hatte, schrieb er in dem Kapitel „Bekämpfen wir den Terrorismus oder die Menschenrechte?“ (S. 113) :

    „Der Triumph der Bürgerrechte zu Hause hinderte Amerika nicht daran, in unserer Hemisphäre und in anderen Regionen einige ausnehmend brutale Regime zu unterstützen, die eklatant die Menschenrechte ihrer Staatsbürger verletzen. Kurz nach meiner Wahl zum Präsidenten kündigte ich an, der Schutz der Menschenrechte solle künftig die Grundlage unserer Außenpolitik sein, und ich unternahm konsequent Schritte, diese Verpflichtung einzulösen. Es war sehr befriedigend zu beobachten, wie eine Welle der Demokratisierung unsere Region und andere Regionen erfasste, sobald grundlegende Freiheitsrechte respektiert wurden.“

    Diese Überzeugung zieht sich durch Carters gesamtes Lebenswerk – bis heute (2021). Bald nach Ende seiner Präsidentschaft gründete er zusammen mit seiner Ehefrau Rosalynn das „Carter Center“ in Atlanta.

    „In einer Partnerschaft mit der Emory-Universität ist es in der Verbreitung der Menschenrechte und dem Lindern unnötiger menschlicher Leiden engagiert.
    Die in Atlanta ansässige Organisation half bisher die Lebensqualität von den Bewohnern in über 65 Ländern zu verbessern. 2002 bekam Carter den Friedensnobelpreis 'für seinen jahrzehntelangen, unermüdlichen Aufwand zum Finden friedlicher Lösungen von internationalen Konflikten, für die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten und dem Vorantreiben von ökonomischer und sozialer Entwicklung'“.
    (Wikipedia)

    Jimmy Carters unermüdlicher Einsatz für Frieden führte 1979 zum Israelisch-Ägyptischen Friedensvertrag, in dem neben der gegenseitigen Anerkennung den seit 1948 bestehenden Kriegszustand beendet wurde.

    In einem Interview mit „Democracy Now!“ (2006) wurde Carter gefragt, ob er in seiner Nahost-Politik von Israel-Lobby-Organisationen wie dem mächtigen AIPAC beeinflusst wurde. Jimmy Carter:

    „Nicht wirklich, denn ich war immun gegen diesen Druck. Als ich zum Präsidenten gewählt wurde, kam ich aus dem Nirgendwo. Niemand dachte bis zur letzten Minute, dass ich gewinnen würde. Und so war ich ihnen nicht verpflichtet. Und ich habe fast jeden Tag meiner Amtszeit als Präsident eifrig daran gearbeitet, Israel Frieden zu bringen und auch Israels Nachbarn Frieden. Und wir haben einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten ausgehandelt, von dem kein einziges Wort je verletzt worden ist. Ich glaube also nicht, dass es irgendeinen Zweifel daran gab, dass mein Engagement damals und heute darin bestand, Israel in Frieden zu sehen, in Harmonie mit seinen Nachbarn zu leben, und auch Gerechtigkeit und Frieden für Israels Nachbarn.“

    In dem Interview kam das damals neueste Buch Carters zur Sprache: „Palestine: Peace Not Apartheid“. Er wurde um die Botschaft des Buches gefragt und antwortete darauf:

    Die Botschaft ist klar: Es geht um Palästina  nicht in Israel selbst , nur in den palästinensisch besetzten Gebieten. Und das zweite Wort ist 'Frieden'. Ich beschreibe in diesem Buch die bisherigen Bemühungen um Frieden und meine Formel, die ich für sehr vernünftig halte, um Israel und Israels Nachbarn Frieden zu bringen. Und ich wiederhole das immer wieder mit einer scharfen Verurteilung jeder Art von Terrorismus, der unschuldige Menschen durch die Handlungen entweder der Palästinenser oder der Israelis trifft.

    Und das Wort 'Apartheid' ist genau zutreffend. Wissen Sie, dies ist ein Gebiet, das von zwei Mächten besetzt ist. Sie sind nun vollständig getrennt. Die Palästinenser können nicht einmal auf denselben Straßen fahren, die die Israelis auf palästinensischem Gebiet angelegt oder gebaut haben. Die Israelis sehen nie einen Palästinenser, außer die israelischen Soldaten. Die Palästinenser sehen nie einen Israeli, außer aus der Ferne, außer den israelischen Soldaten. Innerhalb des palästinensischen Territoriums sind sie also absolut und völlig getrennt, viel schlimmer übrigens als in Südafrika. Und die andere Sache, die andere Definition von 'Apartheid', ist: eine Seite dominiert die andere. Und die Israelis dominieren das Leben des palästinensischen Volkes vollständig.“

    „Warum wissen die Amerikaner nicht, was Sie gesehen haben?“, wurde er gefragt.

    Jimmy Carter: „Die Amerikaner wollen es nicht wissen, und viele Israelis wollen nicht wissen, was in Palästina vor sich geht. Es ist eine schreckliche Menschenrechtsverletzung, die weit über das hinausgeht, was sich ein Außenstehender vorstellen kann. Und es gibt mächtige politische Kräfte in Amerika, die jede objektive Analyse des Problems im heiligen Land verhindern. Ich denke, es ist zutreffend zu sagen, dass kein einziges Mitglied des Kongresses, mit dem ich vertraut bin [Stand 2006], möglicherweise seine Stimme erhebt und fordert, dass Israel sich auf seine legalen Grenzen zurückzieht oder die Notlage der Palästinenser öffentlich macht oder sogar öffentlich und wiederholt zu gutgläubigen Friedensgesprächen aufruft. Es hat jetzt seit mehr als sieben Jahren keinen einzigen Tag Friedensgespräche gegeben. Dies ist also ein Tabuthema. Und ich würde sagen, wenn irgendein Mitglied des Kongresses sich so äußern würde, wie ich es gerade beschrieben habe, wäre er in der nächsten Wahlperiode wahrscheinlich nicht mehr im Kongress.“

    Wie es dazu gekommen sei, dass er als Präsident die Situation der Palästinenser verstanden hatte, wurde er gefragt.

    „Nun, die Situation mit den Palästinensern war, als ich Präsident war, gar nicht so schlecht. Als ich das erste Mal in Israel war, war ich Gouverneur, und ich ging in die Westbank. Es gab nur 1.500 Siedler im gesamten Westjordanland. Und die Annahme, selbst von israelischen Führern, mit denen ich mich traf, war, dass Israel sich aus den palästinensischen Gebieten zurückziehen würde; das sei eine vorübergehende Sache. Und als ich mit dem Ministerpräsidenten Israels, Menachem Begin, ein Abkommen aushandelte, stimmte er zu, dass die politischen Kräfte und die militärischen Kräfte der Israelis aus den palästinensischen Gebieten abgezogen werden würden. Das steht alles in einer schriftlichen Vereinbarung.
    Aber in den letzten 10 Jahren, würde ich sagen, hat sich die Situation rapide verschlechtert. Nicht vielen Menschen ist es erlaubt zu gehen und zu besuchen, wie wir es getan haben. Zum Beispiel dürfen die Mitglieder von B'Tselem, der herausragenden Menschenrechtsorganisation innerhalb Israels, nicht in die Gebiete der Westbank gehen. Sie müssen aus der Ferne beobachten, was zum Beispiel in Gaza vor sich geht.
    Aber bei drei Gelegenheiten wurde das Carter Center, angeführt von mir persönlich, von den Palästinensern eingeladen, ihre Wahlen zu beobachten: 1996, als Arafat zum Präsidenten gewählt wurde und das erste Parlament, das so genannte Parlament, gewählt wurde; wieder nach Arafats Tod, als Mahmoud Abbas zum Präsidenten gewählt wurde; und dann, im Januar 2006, als die Hamas für das Parlament kandidierte und sie erfolgreich war. Wenn wir also die Pflicht haben, eine Wahl zu überwachen, sind wir verpflichtet, in jedes Dorf und jede Stadt im gesamten Westjordanland und auch im Gazastreifen zu gehen, um zu sehen, was vor sich geht.
    So konnten wir die schreckliche Not der Palästinenser sehen, die Tatsache, dass Israel über 200 Siedlungen auf palästinensischem Gebiet hat, die alle befestigt sind, dass Israel über 500 Checkpoints in Palästina hat, wo die Palästinenser sich nicht von einem Ort zum anderen bewegen können, und wo eine Mauer gebaut wird, die den Gazastreifen komplett umgibt, Bethlehem und andere Städte von beträchtlicher Größe umgibt, tief in palästinensisches Gebiet eindringt und immer mehr Land umfasst, das die Israelis Palästina wegnehmen. Und Tatsache ist, dass das Westjordanland ein winzig kleiner Ort ist, der für die Palästinenser herausgeschnitten wurde, nur 22 Prozent des gesamten Landes. Aber das Problem ist, dass Israel diese 22 Prozent nehmen und kontrollieren will. Und es werden große Autobahnen von einer israelischen Siedlung zur anderen und nach Jerusalem gebaut – auf vielen dieser Autobahnen können die Palästinenser nicht einmal fahren, oder manchmal können sie die Autobahnen nicht einmal überqueren. Das ist also das, was innerhalb Palästinas passiert, verübt von den Israelis. Und das ist ein großes Hindernis auf dem Weg zu dem, was ich will und was die meisten Israelis wollen, mit überwältigender Mehrheit: und das ist Frieden.“

    Auf dieser Konferenz hatte Carter die Trennmauer als schlimmer als die Berliner Mauer beschrieben.

    „Oh, sie ist viel schlimmer,“ erklärte er. „Die Berliner Mauer wurde von den Kommunisten auf der kommunistischen Seite der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland gebaut, wie Sie wissen. Diese [Trenn-] Mauer wird auf palästinensischem Land gebaut, und sie ist nicht für die Sicherheit gedacht – das ist ein Nebeneffekt – aber sie geht tief in die Westbank hinein, nur um mehr und mehr Land für die Israelis in Palästina zu besetzen.

    Was der Zweck der Mauer sei? Jimmy Carter:

    „Die Mauer wurde gebaut – sie wurde ursprünglich von Yitzhak Rabin geplant, als er Premierminister war; er ist derjenige, der das Osloer Abkommen, ein Friedensabkommen, ausgehandelt hat –, um entlang der Grenze gebaut zu werden, der Grenze von 1967 zwischen Israel und Palästina. Und der Internationale Weltgerichtshof und ich und andere haben das komplett genehmigt. Daran gibt es nichts auszusetzen. Das wäre wie die Berliner Mauer gewesen. Aber dann wurde Rabin ermordet, und seine Nachfolger – Netanjahu, Sharon und andere – entschieden: Lasst uns die Mauer von der israelischen Grenze verschieben, um tief in Palästina einzudringen und etwas von dem kostbaren Land für die israelischen Siedler zu besetzen.“

    Jimmy Carters Anliegen war, wie er betont, beiden Völkern gerecht zu werden, sodass er erhaben über den Vorwurf sein kann, nur die Seite der Palästinenser zu vertreten.

    „Es gibt eine inhärente Verpflichtung in Amerika, die ich als Christ teile, eine tiefe Verpflichtung, sicherzustellen, dass Israel sicher ist und dass Israel frei ist und dass sie nach Frieden streben können. Also gibt es eine starke Neigung für uns alle, Israels weitere Existenz in Frieden zu unterstützen.“

    Ungeachtet dessen wurde auch er – und er besonders – für sein „Apartheid“-Buch geschmäht, worin er die ungeschminkten Tatsachen aufgezeigt hatte, unter denen das palästinensische Volk in seinem eigenen Gebiet zu leiden hat. Dafür wurde er von Kritikern „Rassist“ genannt, „Antisemit“ und „Schwachsinniger“, wie Eva Schweitzer in der „Jüdischen Allgemeinen“ (JA) am 11.01.2007 berichtete. Rabbiner Shmuley Boteach nannte Carter in der „Jerusalemer Post“ einen „Trottel“, der einen „völligen Mangel an moralischem Verständnis“ zeige. Abraham Foxman von der „Anti-Defamation League“ (ADL) nannte Carter einen „Antisemiten“, und ADL-Chairman Glen Lewy warf ihm vor: „Der Schaden, den Israel und die amerikanische jüdische Gemeinde von Ihren substanzlosen Attacken davongetragen haben, ist beträchtlich.“ Die ADL schaltete sogar Anzeigen, um vor dem Buch zu warnen. Beim „Simon-Wiesenthal-Center“ unterzeichneten mehr als 6.000 Amerikaner eine Petition, in der Carter vorgeworfen wurde, „voreingenommen“ zu sein.
    Besonders bezeichnend für diese Art von polemischer Kritik war der Vorwurf des Anwalts Alan Dershowitz gegenüber Carter, „mit keinem Wort erwähnt zu haben, dass es sich bei Israel um eine Demokratie handle, deren arabische Bürger die gleichen Rechte besäßen“, wie es in dem JA-Artikel hieß. Der Vorwurf fällt aber auf seinen Absender zurück, weil dieser es ist, der unerwähnt ließ, dass Carter nicht über das israelische Staatsgebiet geschrieben hatte, sondern ausdrücklich nur über die besetzten Gebiete und dem Apartheid-System in ihm (s. o.). Tatsächlich war Carters Buch 2005 ein Aufruf zum Handeln, und er legt einen praktischen und erreichbaren Weg zum Frieden dar.
    Nebenbei: Carters Menschenrechtspolitik hatte auch ein Umfeld geschaffen, das 118.591 sowjetischen Juden während seiner Präsidentschaft die Auswanderung ermöglichte.

    Was ist die Triebkraft hinter Jimmy Carters unermüdlichem Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden bis heute? Seit seinen jungen Jahren zeigte er ein tiefes Engagement für das Christentum. Er unterrichtet – soweit es sein Gesundheitszustand im 97. Lebensjahr (2021) erlaubt – bis heute in der Sonntagsschule und ist Diakon in der „Maranatha Baptist Church“ in seiner Heimatstadt Plains/Georgia. In Wikipedia ist zu lesen, dass er als Präsident mehrmals am Tag betete und erklärte, dass Jesus die treibende Kraft in seinem Leben sei. Carter war stark von einer Predigt beeinflusst worden, die er als junger Mann gehört hatte. Darin wurde er gefragt: „Wenn Sie verhaftet würden, weil Sie ein Christ sind, gäbe es genug Beweise, um Sie zu verurteilen?“ Die „New York Times“ bemerkte, dass Carter maßgeblich dazu beigetragen hatte, das evangelikale Christentum während und nach seiner Präsidentschaft näher an den amerikanischen Mainstream heranzuführen.

    Von der mystisch-eschatologischen „Endzeit“-Erwartung evangelikaler Zionisten grenzt er sich allerdings ab. In seinem Buch „Unsere gefährdeten Werte. Amerikas moralische Krise" (s. o.) im Kapitel „Die Deformierung der amerikanischen Außenpolitik“ ging er darauf ein:

    „Zu den besonders bizarren Vermischungen von Religion und Politik gehört der starke Einfluss einiger christlicher Fundamentalisten auf die amerikanische Nahostpolitik. So gut wie jeder in Amerika hat bereits von der 'Left-Behind'-Serie gehört, zwölf Bücher der Autoren Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins, die alle Verkaufsrekorde brechen. Deren religiöse Behauptungen beruhen auf einer geschickten Zusammenstellung von Bibelversen. [...] Das Weltende wird plötzlich kommen, niemand weiß, wann es so weit ist. [...] Dass solche Vorstellungen in der amerikanischen Regierungspolitik Eingang finden, ist Grund zur Sorge. [...] Gestützt auf solche Vorstellungen propagieren einige christliche Politiker in höchsten Positionen besonders lautstark einen Krieg gegen den Irak. Sie reisen häufig nach Israel, unterstützen das Land mit Geld und werben in Washington für die Besiedlung von palästinensischem Land. Starker Druck der religiösen Rechten hat einen maßgeblichen Anteil daran, dass Amerika den massiven Ausbau israelischer Siedlungen und die Anbindung des Westjordanlandes durch Straßen stillschweigend billigt. [...]
    Das hat dazu geführt, dass Amerika weitgehend von der Kritik am Siedlungsbau abrückte, die in den 40 Jahren zuvor dominierte, beginnend mit Präsident Dwight Eisenhower und dann in den Amtszeiten seiner Nachfolger bis 1993, als Präsident Bill Clinton praktisch eine Blankovollmacht für den Bau der Siedlungen gab.“

    4. Die Entdemokratisierung der Demokratie und der Angriff auf die Pressefreiheit in Israel

    Die aktuelle Rangliste zur Pressefreiheit 2020 von „Reporter ohne Grenzen“, die von den vier skandinavischen Staaten Norwegen, Finnland, Dänemark und Schweden angeführt wird (mit Österreich an 18. Stelle), listet Israel an 88. Stelle auf. Davor liegen nicht nur neunzehn afrikanische Staaten, sondern auch das zentralasiatische Kirgisistan (82.), dessen menschenrechtliche Situation als besorgniserregend gilt infolge zunehmender Einschränkung der Pressefreiheit und Meinungsfreiheit, Einschüchterung von Regierungskritikern, Vetternwirtschaft, Zustände auf Polizeistationen, menschenunwürdiger Untersuchungshaft und der Gefängnissituation und in der Praxis weithin verbreiteter Misshandlungen. Unmittelbar benachbart hinter Israel liegt Ungarn (89.), dem vom „Sonderausschuss zu Desinformation und ausländischer Einflussnahme“ des EU-Parlaments demokratieschwächende Praxis attestiert wird:

    „Fake News und Einflussnahme kommt nicht immer aus China oder Russland, sondern auch immer öfter aus Ungarn. [...] Orbans Medienoligarchenfreunde sind eine Gefahr für die jungen Demokratien am Westbalkan.“

    In einem vorhergegangenen Ranking wurde das Verhalten israelischer Verantwortlicher außerhalb der eigenen Staatsgrenzen differenziert betrachtet, da die israelische Armee die Berichterstattung aus den besetzten Gebieten behindert. Für diesen extra-territorialen Raum landete Israel auf Rang 135 und ist damit schlechter platziert als die palästinensische Autonomiebehörde.

    In einem Kommuniqué des israelischen Presserats vom April 2017 heißt es:

    „Die Gesetze, die Israels Regierung vorantreibt, fügen dem öffentlichen Rundfunk und seinen Journalisten schwerste Schäden zu. Sie erwecken den Eindruck, dass hier Köpfe rollen sollen, um eine abschreckende Wirkung gegen alle Journalisten im öffentlichen Rundfunk zu erzeugen. Die zwanghaft anmutende dauernde Beschäftigung des Premiers mit dem öffentlichen Rundfunk und seine Versuche, die Kontrolle über ihn zu gewinnen, sind eindeutig zu verurteilen.

    Auf den regierenden Premierminister [Netanjahu] gemünzt, meinte die Präsidentin des Presserats (sie ist ehemalige Richterin an Israels Oberstem Gericht): „Eine Journalistin persönlich anzugreifen, weil einem ihre Artikel nicht gefallen, das ist ein schwerwiegendes Problem.“  Er hatte eine Journalistin scharf für ihre Recherchen über die Entscheidungsprozesse in seinem Amt kritisiert und ihr einen persönlichen Schmähbrief geschrieben. Es handelt sich um Ilana Dajan, eine investigative Journalistin, die in Israel hohes Ansehen genießt. Doch sie ließ sich von politischem Druck auch von höchster Stelle nicht einschüchtern und entschied sich spontan, im Anschluss an ihren investigativen Feature im Zweiten Israelischen Fernsehprogramm den Brief ungekürzt vorzulesen (Beitrag von „Deutschland Kultur“ am 22.03.2017 über Pressefreiheit und Zensur in Israel: „In vorauseilendem Gehorsam“).
    Ilana Dajan hatte im Anschluss gesagt:

    „Netanjahu hat sehr gut verstanden, dass es ihm nützt, jede Kritik als ‚links‘ zu brandmarken, und jetzt sollte ich als sein Feind markiert werden. Aber ich bin nicht sein Feind. Ich bin auch nicht seine Freundin. Er ist mein Regierungschef. Er führt mein Land. Ich bin Bürgerin dieses Landes und Journalistin. Es ist meine Aufgabe, mich für ihn zu interessieren, ihm Fragen zu stellen und seine Antworten zu hören. Ich bin Journalistin. Das ist alles.“

    Die Präsidentin des Presserats hatte sich zu Wort gemeldet, weil Netanjahu . . .

    „. . . mit der Art und Weise, wie er sie in einer völlig gegenstandslosen Tirade persönlich angriff, ihr Leben gefährdete. Wenn eine Journalistin individuell gebrandmarkt wird, wenn man ihr in dem angespannten politischen Klima hier im Land vorwirft, unsere Soldaten zu hassen, und das, obwohl ihre eigenen Söhne ja in der Armee dienen, könnte jemand sich ermutigt fühlen, sie anzugreifen. Eine Journalistin persönlich anzugreifen, weil einem ihre Artikel nicht gefallen, das ist ein schwerwiegendes Problem.

    In einem Interview wurde sie gefragt:

    „Diese Affären zeichnen ein sehr problematisches Bild. Deswegen nochmals die Frage: Ist Israel dann überhaupt noch eine Demokratie?“

    Antwort: „Ich habe gesagt, dass wir eine Demokratie sind, dass wir ein unabhängiges Gerichtssystem haben, Überwachung durch das Parlament. Aber all das steht auf tönernen Füßen, ist auf Treibsand gebaut, weil wir keine Verfassung haben. Unsere Grundrechte sind nicht festgezurrt, die Regierung kann mit ihrer Mehrheit im Parlament jedes Gesetz erlassen, das ihr beliebt. Es gibt keine geregelte Gewaltenteilung.

    Reporter ohne Grenzen“ berichten über die Situation in Israel:

    „Zivilklagen gegen Journalist/innen und offene Anfeindungen durch Regierungsmitglieder sind keine Seltenheiten. Freie Journalist/innen aus dem Ausland haben oft Probleme, Akkreditierungen zu bekommen oder zu erneuern. Übergriffe und Waffengewalt der Armee gegen Journalist/innen in den Palästinensergebieten sind häufig, besonders bei Demonstrationen. Unter Vorwürfen wie Anstachelung zur Gewalt oder Zusammenarbeit mit terroristischen Organisationen kann die Armee palästinensische Journalist/innen unbegrenzt in 'Verwaltungshaft' nehmen, ohne Anklage gegen sie zu erheben oder einen Rechtsbeistand zu informieren.

    5. Zusammenfassung: Die dreifache Strategie des neozionistischen Lobbyismus

    Die Strategie des neozionistischen* Lobbyismus – seit über zwei Jahrzehnten bewährt und von den Machthabern hochdotiert unterstützt – ist klar eine dreifache:
    Strategie Nr. 1: den Staat Israel nach außen hin als friedenswillige und einzige pluralistische Demokratie im Nahen und Mittleren Osten sowie erfolgreichen HighTech-Global Player präsentieren (Israel als „das Licht der Völker“, so am 13. Mai 2018 bei der 70-Jahr-Feier im Wiener Rathaus unter gewaltigem propagandistischen Aufwand) und global vernetzen – besonders mittels internationaler Rüstungsgeschäfte und Aufrüstung autoritärer Staaten (Beispiel Aserbeidschan), Export von Cybersoftware zur Überwachung von Bevölkerungen durch autoritäre Regime und dem Export des „Know How von Israels Industrie des Gefängniswesens“ und seiner Folterindustrie;
         [Literatur: Jeff Halper: „War Against the People. Israel, the Palestinians and Global Pacification“ (London 2015, 340 S.]
    Strategie Nr. 2: gleichzeitig Feindbilder schüren (Terrorstaaten, Terrororganisationen, Achse des Bösen, Anstieg des Antisemitismus, Holocaust-Leugnungen) und von eigenen Verbrechen ablenken (siehe Nr. 3);
    Strategie Nr. 3: im Lichte seiner außenwirtschaftlichen und diplomatischen Erfolge (Nr. 1) und dank abgelenkter Aufmerksamkeit des Westens durch seinen „War on Terror“ (Nr. 2) die rücksichtslose Kolonisierung und Vereinnahmung der – Jahrhunderte bis Jahrtausende alten – Heimat indigener nichtjüdischer Völker unter Missachtung grundlegender Menschenrechte und hemmungsloser Beseitigung aller Hindernisse vorantreiben.

    Das Motto der zionistischen Kolonisten war stets von Anfang an:
    „Wir sind gekommen, das jüdische Problem zu lösen und nicht das der Araber."

    Erich Fried: „Höre, Israel"  im Original-Ton
    „ . . . der Eindruck der nackten Füße im Wüstensand überdauert die Spuren eurer Bomben und Panzer."

     EXKURS (4):

    Vom illiberalen Neozionismus zur Pluralität des Postzionismus – und wieder zurück . . .

    Wenn in einer Bewegung – religiös, politisch, ideologisch – eine neue Interpretation dessen aufkommt, was diese Bewegung ausmachen soll, und diese sich paradigmatisch durchsetzt, sodass sie schließlich zum „Mainstream“ wird, verkommt die bisherige Interpretation zur dissidenten Randerscheinung. Setzen die neuen Meinungsführer ihr Verständnis absolut und agieren sie strukturell gewalttätig („fundamentalistisch“) – sei es aufgrund des veränderten gesellschaftlichen Klimas oder aufgrund legistischer Einschränkungen –, entwickelt sich ein illiberales Gemeinwesen mit der Neigung, Andersdenkende auszugrenzen.

    Diese Entwicklung hat das Judentum durch seine neuen Meinungsführer hinter sich. Der politische Zionismus war anfangs eine gegenüber der Orthodoxie dissidente Bewegung, hat aber dank seiner extensiven Propaganda unter der nichtreligiösen Judenheit vor allem in Osteuropa rasch an Popularität gewonnen. Dementsprechend wurde er von der Orthodoxie bekämpft und als „unjüdische Sekte“ disqualifiziert, weil „nur über die Torah das jüdische Volk zu definieren“ sei. Darum seien „die Zionisten nicht die Sprecher des Volkes Jisra'el“, so der erste Groß-Rebbe der Satmar-Dynastie, Joel Teitelbaum. Doch angesichts des Schreckens der Shoah wurde die Etablierung des jüdischen Staates zunehmend als rettendes Refugium vor zukünftig drohenden Auslöschungen der Judenheit begriffen. Auch Ultraorthodoxe nahmen das System in Anspruch und arragierten sich teilweise mit der Politik (Agudat Jisra'el).

    Doch die Entwicklung ging weiter und führte zum Neozionismus, einer politisch rechtsgerichteten, nationalistischen und religiösen Ideologie, die in Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 und der Einnahme des Westjordanlands und des Gazastreifens in Erscheinung trat. Uri Ram, Professor für Verhaltenswissenschaften, beschreibt den Neozionismus als „partikularistisch, stammesbezogen, jüdisch, ethnisch-nationalistisch, fundamentalistisch und am Rande sogar faschistisch.“ Heute ist die neozionistische Interpretation dessen, was Jüdischsein zu bedeuten habe, mehr oder weniger zum Mainstream geworden. Dies impliziert das Bekenntnis zu einem großisraelischen Territorium zwischen Jordan und Mittelmeer unter allein „jüdischer“ Souveränität. Andersdenkende, die für das Ende der militärischen Okkupation des Westjordanlandes, für die Freiheit des palästinensischen Volkes und seine Gleichberechtigung ohne israelische Bevormundung eintreten und die Erfüllung aller bisher ignorierten UNO-Resolutionen fordern, gelten daher als „Feinde“ Israels (in dem Sinn, wie Neozionisten „Israel“ interpretieren) und daher als „antiisraelisch“, „antizionistisch“ und sogar als „antisemitisch“ oder – wenn es sich um jüdische Menschen geht – als „selbsthassend“. Einfach „nicht-zionistisch“ zu sein, gilt bei dieser Denkweise nicht, nach dem Motto: 'Bist du nicht für mich [sondern neutral], so bist du gegen mich'.
    So hat sich in weniger als einem Jahrhundert das ursprüngliche orthodoxe Paradigma nicht nur in sein Gegenteil verwandelt, sondern zugleich tendenziell illiberalen Charakter angenommen. Die moderne Orthodoxie (nicht die ultraorthodoxe – diese spielt aber bisweilen den Steigbügelhalter um eigener Vorteile willen) hat die Macht übernommen und übt aggressiv und flächendeckend ihre Einflussnahme aus. Sie beansprucht alleinige Deutungshoheit darüber, was „jüdisch“ und „israelisch“, aber auch, was „antisemitisch“ ist. Darum fühlen sich Menschen (jüdisch oder nichtjüdisch), die loyal zu dieser Ideologie stehen, moralisch berechtigt, auf verschiedene Weise Druck auf Andersdenkende auszuüben und sie – faktisch straflos – diffamieren zu können.

    Den Postzionismus beschrieb Uri Rahm als „postmodern, postkolonial, postzionistisch, postmarxistisch. In der Tat ist in Israel etwas entstanden, das man 'das postzionistische Bücherregal' nennen könnte, das natürlich kleiner ist als das sogenannte 'jüdische Bücherregal', aber definitiv schon ein respektables ist.“ Wie Tom Segev sah er den „Postzionismus“ nicht als eine Ideologie, sondern als ein Klima in Israel, das in den 1980er Jahren als Folge der Öffnung von bis dahin geheim gehaltenen Militärarchiven über die wahren Umstände der Staatsgründung 1947-1949 dank der „Neuen israelischen Historiker“ entstanden war. Er erreichte in den 1990er Jahren seine Hochblüte in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen in Israel, ehe gegen Ende der 1990ern und im darauffolgenden neuen Jahrhundert eine reaktionäre Gegenbewegung begann, zurück zum illiberalen und darüber hinaus zunehmend religiös-nationalistischen Charakter des Staates, mit scheinbar unwiderstehlichen Tendenzen zum ethnisch reinen halachischen Rabbinerstaat mit Vorbereitungen zum Bau eines neuen jüdischen „Tempels“ auf dem Tempelberg.

    Dies bedarf näherer Ausführungen, die an dieser Stelle noch folgen werden. Gleichsam einen Vorgeschmack dazu bietet diese Studie:

    Welchen Wert misst die nationalreligiös-fundamentalistische Orthodoxie dem Leben nichtjüdischer Menschen bei?
    Eine Studie zum Verständnis des israelischen Chauvinismus anhand seiner religionssoziologischen Wurzeln und die Auswirkungen auf Israels Militarismus und sein Demokratieverständnis.

    Es gibt aber auffallende Parallelen auch in anderen Religionen, in denen sich rabiat-fundamentalistische Strömungen ausbreiten. Seit in Indien der Hindu-Fundamentalist Narendra Modi als Premierminister an der Macht ist, steuert es einem exklusiv „theokratischen“ Hindu-Staat zu („Hindu Rashtra“), einer „reinen Hindu-Nation“. Die Parallelen zu den analogen Absichten und Handlungen der religiös-jüdischen Halacha-Extremisten sind frappierend:
    Die Einschränkung der Finanzierung karitativer und auch anderer NGOs in Indien, die keine ausländischen Spendengelder mehr erhalten dürfen, Aufrufe indischer Hassprediger zur ethnischen Säuberung, zu Tötungen und sogar zum Völkermord an Nichthindus – Muslimen wie neuerdings auch an der kleinen christlichen Minderheit – mehren sich, sowie Zerstörungen und Attentate auf Moscheen und Kirchen und drakonische Strafen für Bekehrungen, während die Sicherheitskräfte wegschauen. Nichthindus werden als „Anti-Nationalisten“, d. h. als fünfte Kolonne, dargestellt. Das Fazit eines investigativen Berichts von Swati Chaturvedi, einer preisgekrönte Print- und Rundfunkjournalistin, lautete: „Die indische Demokratie löst sich auf, und es ist an der Zeit, dass die Welt aufwacht und reagiert, bevor sie unwiederbringlich und zu einem unvorstellbaren Preis verloren ist.“

    Zu dieser auffallenden Parallele passt die beiderseits ausgedrückte Freundschaft zwischen den beiden Premierministern von Indien und Israel. “To my great friend Prime Minister @NarendraModi – Congratulations to you and the people of India on your 72nd #RepublicDay. Our friendship grows from year to year”, twitterte Benjamin Netanjahu am 26. Jänner 2021 an seinen PM-Kollegen Modi. Obwohl Indien in dieser bedrohlichen, demokratiefeindlichen Entwicklung Israel weit voraus ist, so liegt die Marschrichtung tausender, politisch zunehmend einflussreicher extremistischer Rabbiner ganz offen auf dem Tisch. Daher ist es auch die israelische Demokratie betreffend „an der Zeit, dass die Welt aufwacht und reagiert, bevor sie unwiederbringlich und zu einem unvorstellbaren Preis verloren ist.”

    Diesbezüglich sei zunächst auf das außerordentlich informative Buch des (persönlich betroffenen) Historikers Prof. Ilan Pappé verwiesen: „Die Idee Israel. Mythen des Zionismus“ (Hamburg 2015, 375 S.) sowie auf den 2004 erschienenen Ha'aretz-Artikel: „Post-Zionism Didn't Die, It's Badly Injured“ (nicht offizielle Übersetzung: „Der Postzionismus ist nicht gestorben, er ist schwer verletzt“).

    [Vorläufiges Ende Exkurs]

    ANHANG: „We stand with Israel“ (Wir stehen an der Seite Israels) – Aber an welcher „Seite Israels“ stehen wir?

    . . . an der Seite des diskriminierenden, landräuberischen und kriegsverbrecherischen Besatzerregimes und seiner bigotten Ideologie?
    . . . oder an der Seite des „anderen“ Israels, nämlich der Friedensvermittler, Aktivisten und Aktivistinnen der demokratischen Zivilgesellschaft im gewaltfreien Widerstand gegen die Gefährdung der demokratischen und menschenrechtlichen Grundlagen durch die diskriminierende Politik der religiösen Extremisten?

    Einige solcher friedens- und gerechtigkeitsbewegten progressiven Initiativen, Aktivisten und Autoren seien nachfolgend vorgestellt:

    B'Tselem:
    Eine führende israelische Menschenrechts-Organisation – und wohl die angesehenste – ist B'tselem (The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories). Sie wurde 1989 von prominenten Akademikern, Anwälten, Journalisten und Abgeordneten der Knesset gegründet und mit dem Carter-Menil Human Rights Prizeausgezeichnet, der von Jimmy Carter verliehen wurde.
    Ihr Name bezieht sich auf die biblischen Worte „b'tselem elohim“ (deutsch: nach dem Ebenbild Gottes), denen zufolge Gott die Menschen nach seinem Ebenbild erschuf (Gen 1,27). Die Organisation sieht darin einen Gleichklang mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die besagt, dass alle Menschen gleich geschaffen und daher gleich an Würde sind und die gleichen Grundrechte verdienen.
    Empfehlungen: B'Tselem wurde als die beste neutrale Quelle für Vorfälle in den palästinensischen Gebieten bezeichnet, so der Menschenrechtstheoretiker und Autor eines Standardwerks Jack Donnelly. In einem Interview mit Ha'aretz im Jahr 2009 lobte der damalige Militärgeneralanwalt Brigadegeneral Dr. Avichai Mendelblit B'Tselem und sagte, dass es seinem Büro hilft, mit Zeugen zu sprechen und Beschwerden zu klären. Er sagte auch, dass die Organisation „wie wir danach strebt, die Wahrheit zu erforschen“.
    Die Präsidentin von New Israel Fund, Naomi Chazan, erklärte: “"B'Tselem schützt nicht nur die Rechte der Palästinenser unter israelischer Kontrolle, sondern auch die israelische Demokratie.”
    Nachum Barnea schrieb am 21. Mai 2010 in der israelischen Zeitung Yedioth Achronoth: „Seit Jahren führt B'Tselem gründliche Recherchen zu Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland durch. Israel braucht B'Tselem ebenso sehr wie B'Tselem Israel braucht. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was ohne B'Tselem in den [besetzten] Gebieten passiert wäre.“ Nachum Barnea ist Historiker und Politwissenschaftler und hat 2007 den Israel-Preis gewonnen, eine vom Staat Israel verliehene Auszeichnung, die als höchste kulturelle Ehre des Staates gilt.


    Schwerpunkt und Ziel der Arbeit: B’Tselem sieht seine Aufgabe darin,
    (1) Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten nachzuweisen,
    (2) die israelische Öffentlichkeit und Gesetzgeber darüber zu informieren und
    (3) zu einer humaneren Gesellschaft beizutragen.
    Dabei will die Organisation eigenen Angaben zufolge keinen Unterschied machen, ob diese von israelischer oder palästinensischer Seite begangen werden. Ihr primäres Ziel als israelische Menschenrechtsorganisation ist es jedoch, die israelische Politik in den besetzten Gebieten zu ändern und sicherzustellen, dass Israel die Menschenrechte der dortigen Bevölkerung schützt und seinen Verpflichtungen gegenüber dem internationalen Recht nachkommt.
    Finanzierung: B’Tselem ist unabhängig und wird durch Beiträge von Stiftungen in Europa und Nordamerika und von Privatpersonen in Israel finanziert. Zu den Förderern gehören Regierungen einiger EU-Länder, die Europäische Kommission, das Foreign and Commonwealth Office, das norwegische Außenministerium, die Open Society Foundations, der EED sowie die Ford Foundation.

    Schovrim Schtika („Breaking the Silence“ – Link zu >>> Zeugnis-Videos)

    Physicians for Human Rights Israel (PHR), Zochrot („Remembering“), Addameer (Prisoner Support and Human Rights Association) und The Villages Group.

    ICAHD (Israeli Committee Against House Demolitions) ist die von Jeff Halper gegründete Menschenrechtsorganisation gegen die fortgesetzte Zerstörung von Häusern palästinensischer Familien durch die israelische Administration. Jeff Halper, ein jüdischer Israeli, ist Anthropologe, ehemaliger Universitätsdozent, politischer Aktivist und Autor. Er hat zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht, darunter sein autobiografisches Werk „Ein Israeli in Palästina: Resisting Dispossession, Redeeming Israel“ und „War Against the People. Israel, the Palestinians and Global Pacification“ (2015). Der Titel seines neuesten Buches lautet: „Decolonizing Israel, Liberating Palestine“ (Jan. 2021).

    Mit ICAHD zusammen arbeitet Good Shepherd Collective (GSC) (>>> 5-Minuten-Video) in den südlichen Hügeln von Hebron (South Hebron Hills) unter den Hirtengemeinschaften der palästinensischen Beduinen. GSC zeigt, wie sich die indigenen Gemeinschaften im Laufe der Zeit entwickelt haben und dennoch ihr einzigartiges kulturelles Erbe und ihre Traditionen angesichts der systematischen Unterdrückung bewahrt haben.

    In diesem Zusammenhang ist auch die zivilgesellschaftliche Organisation Kerem Navot („Nabots Weinberg“) zu nennen, die Anfang 2012 in Israel mit der Absicht gegründet worden ist, die Mechanismen und Strategien offenzulegen und anzufechten, die zu einer fortgesetzten Enteignung palästinensischen Grundbesitzes und der Inbesitznahme enteigneten Landes in der Westbank führen.

    Good Shepherd Collective bildet gemeinsam mit weiteren Menschenrechtsgruppen die „Hebron Coalition Members“. Mitglieder sind auch Hebron Defense Committee, Human Rights Defenders, International Solidarity Movement, Good Shepherd Collective, Protection, Sumud Committee und die Christian Peace Maker Teams (CPT). Die Friedensarbeit von CPT geht auf eine herausfordernde Rede des Theologen und Sozialaktivisten Dr. Ronald J. Sider (Jg. 1939) auf der Mennonitischen Weltkonferenz 1984 in Strassburg zurück. Sein Aufruf trug zu lebhaften Gesprächen in Kirchen in ganz Nordamerika bei, die in den Jahren darauf zur Bildung von „Christlichen Friedensstifter-Korps“ und der Entwicklung von Projekten zur Gewaltverminderung in Krisenregionen führten; sie wurden in der Anfangsphase von den beiden größten mennonitischen Denominationen Nordamerikas und der Church of the Brethren gesponsert. Als Auftrag sehen die Christlichen Friedensstifter-Teams den Aufbau von Partnerschaften zur Transformation von Gewalt und Unterdrückung; ihre Vision ist eine Welt von Gemeinschaften, die gemeinsam die Vielfalt der Menschheitsfamilie annehmen und gerecht und friedlich mit der ganzen Schöpfung leben. In dem militärisch besetzten Westjordanland bedroht die strukturelle Gewalt der Besatzung wie Straßensperren, Hauseinbrüche, Checkpoints und die Präsenz militanter israelischer Siedler in der Nähe palästinensischer Dörfer die palästinensischen Menschenrechte. Kleine CP-Teams von vier bis sechs speziell geschulten Personen helfen in explosiven Situationen durch gewaltfreie Intervention und treten für palästinensische Familien ein, deren Heimat und Lebensgrundlagen durch die Ausweitung der israelischen Siedlungen gefährdet sind. In der Stadt Al Khalil (Hebron) und dem Dorf At-Tuwani der Hirtengemeinschaften in den Hügeln von Süd-Hebron hatten ihr Beistand, ihre Schulwegbegleitung von Kindern, die sonst der aggressiven Gewalt militanter Siedler ausgesetzt sind, ihr gewaltloses öffentliches Zeugnis und die Dokumentation von Vorkommnissen kalmierende und schützende Wirkung. Die Teams arbeiten auch mit palästinensischen und israelischen Menschenrechtsvertreter/innen und Friedensarbeiter/innen in Jerusalem und Bethlehem zusammen.

    Das Akevot Institut für israelisch-palästinensische Konfliktforschung wurde 2014 zur Förderung eines faktenbasierten Diskurses und zur Unterstützung der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern und zivilgesellschaftlichen Organisationen gegründet. Beispielsweise sammeln die Archivare des Forschungsinstituts frühe israelische Dokumente mittels Crowdsourcing, entschlüsseln sie und ermöglichen deren öffentlichen Zugang, etwa zum Thema der militärischen Herrschaft Israels über seine arabischen Bürger im eigenen Staat, die bis 1966 dauerte, mit den Bewegungseinschränkungen, Enteignungen von Eigentum, administrativen Verhaftungen, Ausgangssperren und Deportationen. Allein zum Kafr Qasim Massaker von 1956, bei dem die israelische Grenzpolizei 47 arabische Bürger ermordete (Kinder, Frauen und Männer, zuzüglich einem Ungeborenen), die von der Arbeit heimgekommen waren, wurde vom Akevot-Forschungsinstitut am 63. Jahrestag des Massakers eine umfassende Dokumentenbibliothek online gestellt, mit all seinen Folgen – von der Geheimhaltung, Verschleierung, Politik und Schönfärberei bis hin zu den Prozessen und der öffentlichen Reaktion.
    Einer der Mitarbeiter des Akevot-Forschungsinstituts ist Michael Sfard, Jurist und Menschenrechtsexperte, Enkel von Holocaust-Überlebenden. Er hat eine Vielzahl von israelischen und palästinensischen Menschenrechts- und Friedensorganisationen, Bewegungen und Aktivisten vor dem Obersten Gerichtshof Israels vertreten. Wie auch Gideon Levy ist er Träger des Emil-Grünzweig-Menschenrechtspreises (Emil Grunzweig Human Rights Award) der Vereinigung für Bürgerrechte in Israel. Im Jahr 2011 hatte ein jüdischer Extremist aus der berüchtigten Siedlung Kiryat Arba bei Hebron in einem Internet-Posting zu seiner Ermordung aufgerufen. 2018 veröffentlichte Sfard das Buch: „The Wall and the Gate: Israel, Palestine, and the Legal Battle for Human Rights“. Er ist auch Rechtberater der israelischen NGO „Jesch Din (siehe unten).
    Zum Akevot-Forschungsteam gehört seit kurzem auch der Historiker Adam Raz. Er hat die Bücher „Kafr Qassim Massacre: a Political Biography“ (2018), „Herzl“ (2017, mit Yigal Wagner) und „The Struggle for the Bomb“ (2015) verfasst. Seit mehreren Jahren verfasst er historisch-investigative Beiträge in Ha'aretz zur Aufarbeitung der dunklen Seite der israelischen Militärgeschichte.

    Yesh Din (Jesch Din) ist eine gemeinnützige, unabhängige israelische NGO, die 2005 von einer Gruppe von Frauen gegründet wurde. Das Ziel von Yesh Din, wie es in ihren Publikationen zum Ausdruck kommt, ist es, „für eine strukturelle, langfristige Verbesserung der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten (OPT)“ zu arbeiten. Die Organisation sammelt und verbreitet Informationen über die Verletzung der Menschenrechte der Palästinenser im Westjordanland, veröffentlicht Berichte und regelmäßige Datenblätter, die die Strafverfolgung in Bezug auf israelische Bürger dokumentieren, die das begehen, was die Organisation als „ideologisch motivierte Straftaten gegen Palästinenser definiert. Damit übt sie öffentlichen und rechtlichen Druck auf die israelischen Behörden aus und schärft das öffentliche Bewusstsein für diese Themen. Laut Yesh Din werden 85% der Ermittlungsakten in diesen Fällen wegen Versagens der Polizei geschlossen und nur 7,5 führen zu Anklagen.
    Yesh Din überwacht auch den illegalen Bau auf palästinensischem Privatland und die Ausweitung israelischer Siedlungen auf öffentlichem Land. Die Organisation möchte „systemische Änderungen bei den israelischen Behörden durchsetzen, die die Planung und den Gesetzesvollzug überwachen. Die Organisation reichte mehrere Petitionen beim Obersten Israelischen Gerichtshof (OGH bzw. High Court of Justice, HCJ ein, die u. a. zur Räumung des Ulpana-Hügels in Beit El und zur Entscheidung über die Räumung des illegalen israelischen Außenpostens Amona führten.
    Um ihre Unabhängigkeit zu wahren, nimmt die Organisation keine direkten oder indirekten Spenden von israelischen oder palästinensischen Regierungsstellen an.

    Der New Israel Fund ist die führende Organisation, wenn es um die Förderung der Demokratie und Gleichheit für ALLE Israelis geht. Seit seiner Gründung 1979 hat der New Israel Fund mehr als 2000 NGOs in Israel mit fast 300 Millionen Euro unterstützt. Die Leitidee: „Gemeinsam für ein besseres Israel“.

    Eine wichtige wissenschaftliche Einrichtung zur Stärkung der Grundlagen der israelischen Demokratie ist das 1991 gegründete Israel Democracy Institute, ein unabhängiges Forschungs- und Aktionszentrum. Mitbegründer und Vizepräsident ist der in Deutschland geborene, angesehene Verfassungsjurist und emerit. Professor für internationales Recht an der Hebrew University of Jerusalem, Mordechai Kremnitzer. Ha'aretz-Leser/innen ist er durch seine Kommentare und Analysen zur staatsrechtlichen Entwicklung in Israel bekannt.

    Weitere, nicht spezifisch jüdische Organisationen, die sich für humanitäre und menschenrechtliche Angelegenheiten einsetzen:

    Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in Palästina (OCHA oPt) führt eine umfassende Datenbank über alle Ereignisse und die Situation im Westjordanland und Gaza-Streifen und veröffentlicht laufend monatliche Berichte, die abonniert werden können, mit ausführlichen Dokumentationen und genauen statistischen Angaben (z. B.: „West Bank Demolitions – So far in 2020: 848 structures demolished; 996 Palestinians displaced.“).

    Auch das Al Mezan Center for Human Rights ist eine unabhängige, überparteiliche, nichtstaatliche Menschenrechtsorganisation mit Sitz im Gazastreifen. Seit seiner Gründung im Jahr 1999 widmet sich Al Mezan dem Schutz und der Förderung der Achtung der Menschenrechte – insbesondere der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte –, der Unterstützung von Opfern von Verletzungen der internationalen Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts sowie der Förderung von Demokratie, Gemeinde- und Bürgerbeteiligung und der Achtung der Rechtsstaatlichkeit im Gazastreifen als Teil des besetzten palästinensischen Gebiets. Al Mezan stellt sich eine freie und souveräne palästinensische Gesellschaft vor, in der alle Frauen, Männer und Kinder die Vorteile der sozialen Gerechtigkeit, der Menschenrechte, der Vorzüge der Rechtsstaatlichkeit und der guten Regierungsführung in vollem Umfang und gleichermaßen genießen.

    Zuletzt sei das renommierte Palestinian Center for Human Rights (PCHR) vorgestellt. Es ist eine unabhängige palästinensische Menschenrechtsorganisation (registriert als gemeinnützige GmbH) mit Sitz in Gaza-Stadt. Es genießt Konsultativ-Status beim ECOSOC der Vereinten Nationen, ist Mitglied einiger Menschenrechtsorganisationen und wurde mit mehreren Menschenrechtspreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bruno-Kreisky-Preis für herausragende Leistungen im Bereich der Menschenrechte. Es wurde 1995 von einer Gruppe palästinensischer Anwälte und Menschenrechtsaktivisten gegründet, um:
    - die Menschenrechte zu schützen und die Rechtsstaatlichkeit in Übereinstimmung mit internationalen Standards zu fördern,
    - Demokratische Institutionen und eine aktive Zivilgesellschaft zu schaffen und zu entwickeln und gleichzeitig die demokratische Kultur innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu fördern,
    - alle Bemühungen zu unterstützen, die darauf abzielen, das palästinensische Volk in die Lage zu versetzen, seine unveräußerlichen Rechte in Bezug auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit in Übereinstimmung mit internationalem Recht und UN-Resolutionen auszuüben.
    Das PCHR gibt wöchentlich einen Bericht über alle Vorfälle im Westjordanland und in Gaza heraus, darüber hinaus sofortige Mails über aktuelle Vorfälle. Man kann sie abonnieren.

    Mit dieser Auflistung (die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt) soll einen Einblick in die engagierte demokratisch-israelische Zivilgesellschaft und ihre Akteure und Akteurinnen und ihre Projekte und Anliegen für ihren Staat bieten.

    An welcher „Seite Israels“ stehen unsere Politiker/innen?

    Die Forderung nach Dekolonisierung und Aufhebung der Besetzung Palästinas sowie nach Gleichberechtigung der gesamten Bevölkerung „zwischen Fluss und Meer“ mit allen erforderlichen Maßnahmen bis hin zur Einsetzung einer Staatsverfassung (wie übrigens in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 versprochen, aber nie eingehalten worden ist) entspricht dem Standard des demokratischen postkolonialen Europas. Das Nationalstaatsgesetz (National State Law) dagegen, das am 19. Juli 2018 von der Knesset mehrheitlich beschlossen wurde, widerspricht diesem Standard in mehreren Punkten gravierend.

    Es handelt sich daher um eine schwerwiegende Fehlanzeige, wenn Bemühungen um einen staatspolitischen Umbau des spezifisch „jüdischen Staates“ in einen säkularen Staat bei voller Religionsfreiheit und Gleichberechtigung aller seiner Bürger/innen mit der Behauptung kompromittiert werden, dies würde eine „Zerstörung Israels“ bedeuten oder „das Existenzrecht Israels in Frage stellen“. Letzteres wurde im Text der „Entschließung betreffend Verurteilung von Antisemitismus und der BDS-Bewegung“ implizit behauptet, welche von fünf Nationalrats-Abgeordneten aller im österreichischen Parlament vertretenen Parteien eingebracht worden war und am 27. Februar 2020 vom Parlamentsplenum einstimmig angenommen wurde. Implizit deswegen, weil die Kampagne der Boykottbewegung von BDS, die in dieser „Entschließung“ verurteilt und dabei („in ihrem Kern“) als „antisemitisch“ diffamiert wurde, im Wesentlichen den oben skizzierten Standard gegenüber dem israelischen Staat einfordert.
    Dieser Logik zufolge erachten Verfechter der Beibehaltung des Status Quo (und damit der Diskriminierung der nichtjüdischen Bevölkerung unter der bestehenden israelischen Gewaltherrschaft) eine Änderung ihres exklusiv „jüdischen“ Anspruchs für „ihren“ Staat als Angriff auf ihre Identität und würde aus ihrer Sicht die „Zerstörung“ des Staates, wie sie ihn meinen, bedeuten. Sie würden sich identitär als „delegitimiert“ und ihres (exklusiv jüdischen) „Existenzrechts“ beraubt sehen. Und weil der Vorwurf des „Antisemitismus“ in der öffentlichen Wahrnehmung außerordentlich heikel für die Reputation auch der unverdächtigsten renommierten Kritiker der israelischen Politik geworden ist, eignet er sich zur Abwehr unerwünschter Kritik.

    (Anmerkung: Genau das ist dem renommierten afrikanischen Historiker und Philosophen Achille Mbembe ím Frühjahr 2020 passiert. Er hatte die Besetzung Palästinas als „größten moralischen Skandal unserer Zeit“ bezeichnet (Bericht in der Deutschen Welle vom 29.04.2020), sie sei „eine der entmenschlichendsten Torturen des Jahrhunderts, in das wir gerade eingetreten sind, und der größte Akt der Feigheit des letzten halben Jahrhunderts.“)

    Die Gaza-Krise erfordert eine dringende Intervention der Europäischen Union.
    Die Europäischen Koordination der Komitees und Vereinigungen für Palästina (ECCP) stellt folgende Forderungen an die EU:

    1. Die EU muss gemäß der Menschenrechtsklausel des Assoziierungsabkommens mit Israel wirtschaftliche und militärische Sanktionen gegen den Staat Israel verhängen, bis die Belagerung des Gazastreifens aufgehoben wird.
    2. Die EU muss einen direkten Dialog mit der derzeitigen Regierung des Gazastreifens beginnen und eine Versöhnung und nationale Einheit unter den palästinensischen politischen Parteien unterstützen.
    3. Die EU muss Maßnahmen ergreifen, um die Belagerung des Gazastreifens aufzuheben, indem sie den Handel auf dem Seeweg ermöglicht und frühere Projekte zum Bau eines kommerziellen Seehafens wieder aufgreift, um dem Gazastreifen Import- und Exportmöglichkeiten zu eröffnen.
    4. Die EU muss umgehend einen Interventionsplan für das Gesundheitswesen ausarbeiten, um Finanzmittel und Mechanismen bereitzustellen, die die Lieferung lebensrettender Medikamente und die Möglichkeit von Behandlungen sicherstellen, die in Gaza nicht verfügbar sind. Darüber hinaus muss die EU besondere Hilfen für die Bekämpfung des Covid-19-Virus bereitstellen.
    5. Die EU muss alle politischen Beschränkungen bei der Auszahlung von Geldern an palästinensische NGOs aufheben.

    Möge dieser Beitrag zum Nahost-Konflikt der Versachlichung der Wahrnehmung dienen!

     

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© Fritz Weber, 25. Dezember 2020, ergänzt 2021. benaja [at] gmx.at